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Autor Thema: Maria in Japan - 2018  (Gelesen 9441 mal)
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« Antworten #30 am: 26. März 2018, 19:10:58 »

Uh, danke für den Link, vielleicht ist da ja sogar ein bisschen Indigo drin, das ist zwar selten, aber kommt schonmal vor...
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Maria
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« Antworten #31 am: 27. März 2018, 12:31:09 »

Freitag, 23.3. Okonomiyaki
Den Tag heute habe ich mir komplett verplant. Nach dem Unterricht treffe ich mich mit meiner Tandempartnerin und wir gehen in der Shitencho-Shoutengai essen (es dauert allerdings etwas, bis ich ihr auf Englisch klar gemacht habe, dass ich etwas Warmes will und nicht nur in einem der Backwaren-Cafes sitzen), zuerst Curry, dann Tee in einem Kaffeeladen. Gesprächsthema diesmal sind Kindheitserinnerungen und der Unterschied zwischen Stadt und Land. Sie hat ihren Job bei einer Bankfiliale in einer Kleinstadt gerade gekündigt, um für die Fluglotsen-Prüfung zu lernen, daher nimmt sie auch Englischkurse an der Sprachschule.
Kurz vor 17:00 sind wir zurück an der Sprachschule, ich schwatze ihr einen Kräutertee auf und dann verabschiedet sie sich, weil der Kanji-Kurs beginnt. Die Schule hat wieder zwei japanische Praktikantinnen „gezwungen“ (naja, okay, eine will Japanischlehrerin werden, das passt also) daran teilzunehmen, sie lernen also mit mir und dem deutschen Physiker, Spitzname Gigi, die unterschiedlichen Kanji für „erschaffen, machen, herstellen“.
In der kostenlosen Klasse danach ist das Thema die historische Entwicklung von japanischen Verben, besonders die te-Form. Eigentlich ganz interessant, zu erfahren, woher die Unregelmäßigkeiten der Bildung kommen (meine Vermutung war richtig - einfachere Aussprache).
Der Abschluss des Abends danach ist der Ausflug in das Okonomiyaki-Restaurant Unohana im Hochhaus IMS. Viele Büro-Türme in Japan haben auf den obersten Etagen Restaurants, deren Hauptkundschaft die arbeitende Bevölkerung im selben Gebäude ist. So sind auch hier alle anderen Gäste Salarymen. Die Schule hat vorsorglich einen Tisch für uns reserviert, aber ich bin trotzdem erstaunt, als die beiden Praktikantinnen plötzlich nicht mehr da sind – ihr Auftrag war wohl, uns bis zum Restaurant zu bringen – pff, das hätten wir auch selber geschafft...
Ich texte Laura die Adresse, damit sie direkt nach der Arbeit zu uns stoßen kann. Insgesamt sind wir drei deutsche Sprachschüler/innen (ich, Gigi und eine ältere, neu dazugestoßene Dame, Birte) und Kanna.
Laura kommt an und erzählt, wie ihr Praktikum bis jetzt gelaufen ist – und was sie für Probleme mit der Schule hatte. Das Fahrrad, das sie zuerst von der Schule bekommen hatte, war kaputt und wurde von Alex ausgetauscht, allerdings ohne dass er ihr das mitgeteilt hätte. Laura wachte also an diesem Morgens auf, ihr altes Rad war weg, das neue Rad an derselben Stelle hatte ein Schloss, aber ihr hatte niemand etwas gesagt oder den Code mitgeteilt – ohne Fahrrad kam sie zu spät zur Arbeit, da Alex nicht auf ihre Nachrichten reagierte und den Code bekam sie erst am Abend per Email. Klar, dass sie nicht gut auf ihn zu sprechen ist, als er nachkommt – und er dann auch noch hart die Chance versemmelt, sich zu entschuldigen.
Im Gegensatz zur anderen Tischseite, die alle dasselbe Okonomiyaki bestellen (langweilig!), suche ich mir das Monjayaki aus und Laura das Mochi-Käse-Okonomiyaki. Richtige Entscheidung, mein Essen ist das einzige, was auf der heißen Platte in der Mitte des Tisches direkt frisch vorbereitet wird.
Monjayaki ist wie Okonomiyaki eine Mischung von kleingeschnittenem Weißkohl, Teig und anderen Zutaten, aber deutlich flüssiger und wird mit kleinen Spateln gegessen.  Da wir beide gleich erkältet sind, haben Laura und ich keine Skrupel, unsere Gerichte zu teilen. Lecker!
Am Bahnhof Tenjin trennen wir uns und ich fahre nach Hause. Es ist 21:00 und noch immer sehr viel los, das Nachtleben scheint gerade erst loszugehen – Killer Heels und Miniröcke!
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« Antworten #32 am: 27. März 2018, 12:42:35 »

Samstag, 24.3. Sakura
Genau wie Jan-Ole und David habe ich mich von der falsch angegebenen Zeit im Schulkalender verwirren lassen und starte um 9:15 Richtung Hakata, um in der U-Bahn zu merken, dass wir uns erst um 11 Uhr am Sennen no Mon (Tausend-Jahre-Tor) in Gion treffen werden. Die eine Stunde nutze ich, um in Nakasu das Fukuoka Asian Art Museum zu besuchen, das moderne Kunst aus ganz Asien zeigt, von Indien bis Singapur und der Mongolei. Günstig (200 Yen) und gute Auswahl aller Stilrichtungen und Genres, erinnert mich an das MoMa in New York, nur viel, viel kleiner. Im obersten Stockwerk ist ein Ausstellungsraum für lokale Künstler, darunter auch die Gewinner eines Wettbewerbs von Minne, einer Plattform für Miniatur-Handarbeiten.
https://minne.com/curations/32
Vor allem die 3D-Kunst-Objekte beeindrucken mich, leider haben sie einen entsprechenden Preis, als ich sie im Museumsshop zum Verkauf angeboten finde. Da die Zeit knapp wird, bin ich froh, dass die Wanderausstellung mich nicht interessiert (Paddington der Bär) und beeile mich, zum Treffpunkt zu kommen. Die Eile war unnötig, unserer italienische Führerin Lucrezia samt Freundin kommt zu spät. Sie macht gerade ein von der Asahi-Schule vermitteltes Praktikum in einer lokalen Werbe-Zeitungsagentur und drei von ihren Kollegen/jap.Mit-Praktikanten gehen mit auf die Tour.
Die erste Station ist Joutenji, ein Zen-Tempel mit sehr hübschem Garten. Leider ist der Steingarten (der auch im Fukuoka-Werbevideo gezeigt wird) abgesperrt, aber laut Gigi ist er während der Herbstlaubfärbung wunderschön, man könne auf der Veranda des Tempels Matcha trinken und die nächtliche Lichtshow bewundern.
Etwas lustig finde ich die Denkmäler im Tempel, eins davon ist ein Dank an die Götter für Soba und Udon (Nudeln), das zweite verehrt den Japaner, der die Verarbeitungstechniken (Mühlen, Ernte, Lagerung...) aus China und Korea mitgebracht hat und die ersten Manju (runde Teigtasche) und das erste Youkan ermöglicht hat (dritte Stele).
Der Joutenji ist der Schrein, dessen Priester der Legende nach der Ursprung des Gion Yamakasa Festivals sein soll. Während einer Pestepidemie wurde er durch die Stadt getragen und seine Segnung vertrieb die Pest.
Auf der anderen Straßenseite ist ein weiteres Gebäude, das zum Joutenji gehört, hier ist allerdings nur das pompöse Tor für die Kaiserfamilie (daher seit 1000 Jahren geschlossen) und der Hyakudoishi interessant, ein Stein, der die Stelle markiert, die man beim Hyakudomairi umrundet (100-Gebete-Ritual, bei dem man zwischen einem Schrein und dem Stein 100 Mal hin und herläuft und jedesmal betet, machten früher vor allem Frauen, wenn Männer und Söhne in den Krieg zogen). Dasselbe gab es auch beim Nanzouin, nur mit einem Zähler (Drahtring mit Ringen, die man von einer Seite auf die andere legen kann).
Der zweite Tempel, Tochoji, gehört zum Shingon-Buddhismus, also der Strömung, die sagt, dass es möglich ist, Erleuchtung/Buddhasein auch schon im Diesseits zu erlangen. Er ist viel größer und hat außer einer großen Halle einen Nebentempel mit Sutras, eine rote fünfstöckige Pagode, eine Gebetskette mit klackernden Kugeln (falsche Anzahl, keine 108) und vor allem den Riesen-Holz-Buddha. Das Schnitzen der Statue wurde 1988 angefangen und dauerte vier Jahre (laut vergilbten Fotos im Versammlungssaal). Im Sockel unter dem Buddha befindet sich der „Höllenpfad“, man geht an einer Seite rein, kommt an möglichst schockierenden Bildern der sieben buddhistischen Höllen vorbei, bevor man durch einen komplett dunklen, sich in alle Richtungen windenden Gang den Ausgang sucht. Das erste Licht – und damit das „Paradies“ - ist ein Bild des Buddha, ausgeleuchtet von Laternen.  Eine gute Idee ist, finde ich, dass der Tempel für die Buddhahalle keinen Eintritt verlangt und man stattdessen für 50Yen eine Kerze und Weihrauch kauft.

Statt einem Tempel ist die nächste Station das Hakata Machiya Folk Museum, ein altes Haus in der Altstadt (von der durch die Bombenangriffe im 2. Weltkrieg nicht viel übrig ist). Drinnen steht ein Jacquard-Webstuhl mit Lochkarten, an dem ein lokaler Handwerker gerade einen Obi webt. 1 Stunde für 2cm – kein Wunder, dass die traditionellen Textilien so teuer sind. Ich versuche mein Bestes, einer englischen Touristin die japanische Beschreibung des Webstuhls zu übersetzen...
Leider sind heute keine weiteren Vorführungen angesetzt – früher hatte die Schule wohl Workshops in dem Museum reserviert, aber in dem einen Monat, wo ich da war, natürlich nicht, meh!
Am Ryuguji-Tempel gehen wir nur vorbei – hier ist die Legende das Interessanteste, der Tempel soll über dem Grab einer Meerjungfrau errichtet worden sein.
Je näher wir dem Stadtzentrum kommen, desto mehr Touristen sind unterwegs und der Kushida-Schrein ist genau wie der Tochoji ein beliebter Stopp für die organisierten Bustouren – daher ist er sehr voll. Ich kaufe mir ein Omikuji (Glückslos) und bin laut ihm „slightly lucky“.
In der Kawabata Shoutengai essen wir Udon zu Mittag – statt dem Fukuoko-Spezial-Gobo-Ten-Udon nehme ich das Hähnchen-Udon, weil da ein Salat dabei ist. Gigi gefällt der Laden, weil er immer auf der Suche nach familiengeführten Restaurants ist.
Ich fasse auch den Entschluss, hierhin zurück zu kommen, aber nicht wegen dem Essen, sondern wegen der Einkaufsstrasse. Solche Retro-Shoutengai sterben in Japan wegen der Konkurrenz zu Malls und Einkaufszentren langsam aus, aber Kawabata scheint noch sehr aktiv – im Vergleich zu der Shoutengai in Takamatsu (und das war schon 2005) gibt es hier keine leerstehenden Läden. Nicht ganz unschuldig daran ist natürlich der Tourismus, der auch mit einem Yamakasa (Lade mit Pappmaché-Berg-Figuren-Panorama) angelockt wird – hier lustigerweise in der Star Wars-Version.
Wir laufen etwas im Kreis, um den Suikyo Tenmangu-Schrein zu besichtigen, der fast zwischen den Hochhäusern verschwindet. Der Legende nach soll Sugiwara no Michizane (also der Gelehrte, der auch in Dazaifu als kami verehrt wird), hier in einen Teich geblickt haben – daher der Name „Wasserspiegel“. Aber der Hund der den Tempel verwaltenden Familie ist interessanter als das Gebäude selber, dessen wichtigste Eigenschaft ist, dass er der Stadt Tenjin den Namen verliehen hat.
Auch den Suijo-Park (öffentliche Aussichtterasse direkt am Nakasu-Fluss) und das Akarenga Cultural Center finde ich jetzt nicht soooo spannend. Letzteres ist ein rotes Backsteingebäude aus der Meiji-Zeit, erbaut von demselben Architekten wie Tokyo Station. Wir dürfen nicht in die obere Etage, ich vertreibe mir stattdessen die Zeit, mir vorzustellen, wie es innen ausgesehen hat, als es im 19. Jhd der Hauptsitz einer Versicherung war, mitsamt Marmor-Schalterhalle.
Ein Teil der Kollegen von Lucrezia verabschiedet sich hier, weil sie zurück zur Firma müssen, wir gehen noch zum Ankokuji – aber den Tempel hatten wir schon bei der Stadtführung am ersten Tag auf dem Programm und er ist eh noch nicht fertig – ich stalke also stattdessen lieber die Tempelkätzchen, die leider wie alle Katzen hier in Fukuoka Straßenkatzen sind.
Ich kaufe noch schnell ein Omiyage für Frau Tsuruda, die ich am nächsten Tag besuchen will und kehre nach Nishijin zurück, wo mich beim Öffnen der Tür Lärm empfängt. Der Tisch ist auf volle Länge ausgezogen und außer meinen Gasteltern sind Kiyomi, Chiharus Mutter, Lena und zwei Schweden im Wohnzimmer. Der wegen einem Hexenschuss auf dem Boden liegende Alex hat vor 11 Jahren Homestay bei Kiyomi gemacht und er und seine Schwester Gaby sind auf ihrer Japanreise zu Besuch vorbeigekommen. Die Westler unterhalten sich angeregt auf Englisch, bis es ganz plötzlich heißt „Aufbruch zum Hanami“.
Alles zwängt sich in Nobutakas Auto (hat hinten 5 Sitze) und wir parken am Maizuru-Park. Ich wundere mich etwas, dass wir für ein Hanami sowenig dabei haben – ich hatte keine Zeit, meine Gummibärchen-Reserven zu holen, gehe aber davon aus, dass der Rest von Chiharus Familie im Park auf uns warten wird. Zu früh gefreut – statt einem ordentlichen Hanami-Picknick unter den halb blühenden Bäumen hatten die Gasteltern wohl einen kurzen Spaziergang geplant, daher sind sie etwas pikiert, als wir Westler uns auf einmal hinsetzen wollen – können aber wegen Alex Rücken nicht ablehnen.
Also sitzen wir auf Rucksäcken und Jacken, tauschen mit der multinationalen Nachbargruppe Bier (schwedisches Craft Beer) gegen Plastikgläser und wundern uns, als die Gasteltern nach ca. 15min wieder aufbrechen wollen – stellt sich heraus, dass sie keine Eintrittsgebühr für die nächtliche Lichtshow ausgeben wollen.
Zurück im Matsuo-Haus und nach der beruhigenden Erkenntnis, dass die schwarzweiße Katze von einer jungen Studentin jeden Abend um 19h gefüttert wird, essen wir an der Tafel teure Bentoboxen (äh ja, bis auf die rohen Mini-Oktopi, die unsere Gaijin-Tischseite einhellig verschmäht) und lustige Dinge wie Umeboshi - auch wenn ich jetzt schon zusammenzucke, wenn ich sehe, wieviel Müll die Plastikboxen machen werden.
Je mehr Alkohol die Männer intus haben, desto lustiger wird das Gespräch. Kazuo, der Vater von Chiharu, Chie und ? (habe den Namen der jüngsten Schwester vergessen) versucht immer Witze zu machen, irgendwann schläft er ein, weil er wegen des Golden Retrievers zu Fuß vom Elternhaus und Ohoripark gekommen ist. Die Hunde (Daku, Musashi, Pluto) werden am Ende des Abends alle mit ins Auto gepackt und dann ist der Abend vorbei.

Memo to self: Selber Nacht-Hanami organisieren!
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« Antworten #33 am: 27. März 2018, 12:51:04 »

Sonntag, 25.3. Akizuki und Sentou
Nach dem Frühstück fahre ich nach Tenjin und steige diesmal sofort in den Tokkyuu (Schnellzug) nach Futsukaichi – daher bin ich eine Stunde zu früh und nutze die Zeit für einen Supermarkt-Quickie (Katzenfutter, Schokobrioche und Möhren) und einen kleinen Spaziergang im Stadtpark. Nix Besonderes, wird aber Sonntags morgens wohl außer von Hundehaltern von einem Leichtathletik-Schulclub genutzt. Die armen Kinder müssen einen Berg hochrennen und die Trainer nehmen die Zeit. Mir ist zu warm, trotzdem laufe ich (Anti-Erkältung) mit Schal durch die Gegend und wundere mich über die Tatsache, dass am Rand des Parks ein Apartment-Mietshaus direkt in einen alten Friedhof gebaut wurde.
Um 11 Uhr hält Frau Tsurudas Auto am Bahnhofsvorplatz. Wir fahren zu ihrem Haus, wo ihre Schwiegertochter mit dem nächsten Neugeborenen (Miharu) und der einjährigen Kaho wartet. Ich werde zum Mittagessen eingeladen (Hauptteller ähnlich wie Taco-Reis, dazu Gobo-Fleisch-Gericht, Speck-Käse-Hanten und Salat). Das Natto lehne ich ab, das kann gerne Kaho essen.
Wir nehmen Kaho mit, als wir uns nach Akizuki aufmachen, einer ehemaligen Festung, die den Charme einer Samurai-Stadt in den Bergen behalten haben soll. Leider sind die Kirschbäume auf dem Hauptweg noch nicht aufgeblüht, aber trotzdem ist viel los. Mit dem Kinderwagen kommt Frau Tsuruda nicht die steilen ehemaligen Burgzugänge hoch, daher laufe ich alleine zum Tempel und zu der Stelle hoch, an der die Burg stand (dort ist jetzt eine Grundschule).
Insgesamt scheint die Stadt außerhalb der Touri-Saison vom Bevölkerungsschwund betroffen zu sein - mehrere verlassene Häuser, die beiden hölzernen Tempel sind nicht gut gepflegt, alles hat einen Hauch von Vergänglichkeit.

Aber ein paar interessante Geschäfte – ein Laden, der Stoffe mit Sakurablättern einfärbt, ein paar Künstlerläden (leider außerhalb meines Geldbeutels), vor allem aber Flohmarktbuden in einem Teil von Akizuki, den Frau Tsuruda noch nie besichtigt hat. Da sie mit dem Kinderwagen draußen wartet, kann ich mir nicht soviel Zeit zum Stöbern nehmen, wie ich wollen würde, denn die Auswahl an japanische Antiquitäten wie Shokado-Boxen, Teebecher, Teekannen, Keramik, Kimonostoffe, Kimonos und Gürtel ist groß. Ich muss mich extrem zurückhalten (Koffer-Limits! Koffer-Limits!) und gebe nur 800 Yen aus.

Als Dankeschön für das Fahren und die Parkgebühr lade ich Frau Tsuruda in einem Hippie-mäßigen Kramsladen, der gleichzeitig als Cafe (mit Kotatsus drinnen) und Dritte-Welt-Laden fungiert, zu einem Matcha-Latte ein.

Zurück in Dazaifu holt die Schwiegertochter eine Kuchenbox aus dem Kühlschrank, kleine Kostbarkeiten aus einer französischen Patisserie – und natürlich kriege ich schon wieder Geschenke, diesmal Kuzu (Gelee) und Fukuoka-Horimon, das ich mit den Matsuos essen soll. Beim Abschied von Frau Tsuruda bin ich sehr dankbar und auch etwas wehmütig, ich glaube, bei ihr hätte ich einen noch besseren Monat in Fukuoka gehabt.

Kurz trage ich mich mit dem Gedanken, den Matsuos nicht zu erzählen, dass ich den kompletten Tag mit meiner ersten Gastmutter verbracht habe, dann schaltet mein Gehirn sich ein und sagt „Na und? Sie hatten eh nichts Besonderes für den Sonntag geplant“. Chiharu war zumindest mit Kota im Ohori Park Gassi-Gehen, Nobutaka ist wieder mit dem Motorrad unterwegs.

Ich sage Chiharu über Line Bescheid, dass ich kein Abendessen brauche, weil ich Joggen und ins Sentou (Badehaus) will, aber auf dem Weg nach Hause entscheide ich mich, dass Joggen eine dumme Idee ist (damn you, cold!), daher gehe ich direkt ins Sentou Aratoyu.

Dieses kleine Bad liegt direkt an der nordwestlichen Ecke des Ohori Parks und hat sich wahrscheinlich seit 70 Jahren nicht im Aussehen verändert: Holzschließfächer, Spiegel, alte Aushänge – und die alte Oma auf dem Aufseher-Ticket-Podest ist wahrscheinlich auch schon über 90.

Ich bezahle die 440 Yen Eintritt, ziehe meine Schuhe aus und wundere mich dann, dass ich am Eingang direkt im Umkleideraum stehe. Hier gibt es keine Trennung zwischen dem Schließfach/Massagestuhl/Milch-Kühlschrank-Raum und der Umkleide, auch wenn es die typischen Körbe gibt, in die man die Kleidung legt. Und theoretisch könnte man von der Männerseite rein sehen, wenn man sich über das Podest beugen würde. Egal, ich ziehe mich aus und gehe nur mit Shampoo, Spülung, Seife und Mikrofaser-Waschlappen bewaffnet in den Baderaum. Außer mir sind nur zwei Seniorinnen drin, eine davon ist gerade fertig und verlässt das Bad.

Ich setze mich auf den Plastikhocker und nutze die Plastikbütt unter den Wasserhähnen, um Wasser über meinen Körper zu kippen. Gründlich waschen, Haare hoch stecken und ins Wasser. Scheiße, ist das heiß! Trotz langsamem Zentimeter-für-Zentimeter-Eintauchen ist es mir nach kurzer Zeit zuviel und ich wechsele in das Mini-Becken daneben, auch heiß, aber besser zu ertragen. So habe ich Zeit den „Ausblick“ zu genießen - auf das amateurhafte Wandbild eines roten Fuji (aber hey, mit Katzen-Klecksen), auf die Shouwa-Filmposter – und die Stockflecken an der Decke.

Die Oma ist sich immer noch am Waschen – war ich zuwenig sorgfältig? Nein, des Rätsels Lösung ist, dass sie Wechselduschen macht, also sich mit kaltem Wasser abkühlt und dann wieder ins Bad steigt. Ich folge ihrem Beispiel und „kneipe“,  während sie die ganze Zeit wortlos summt und vor sich hin singt, auch als sie das Bad verlässt. Etwa 10 Minuten bin ich alleine, dann kommt eine Mutter mit ihrem Sohn rein. Ich bin etwas schockiert, als sie sich und den Jungen gerade mal mit einem Schwall Wasser begießt und dann sofort ins Becken steigt – aber vielleicht haben sie zuhause schon geduscht?

Egal, ich reibe Conditioner in meine Haare, spüle sie aus und reibe mich dann mit dem Mikrofasertuch trocken. Draußen der Fön ist mir zu teuer, daher lasse ich die Haare offen, ziehe mich an und mache zum Abschluss des Tages einen kleinen Schlenker Richtung Ohori Park, über die Brücke und finde dann noch mehr Straßenkatzen (yay!).

Wahrscheinlich wegen dem heißen Bad bin ich so platt, dass ich es nicht mehr schaffe, dieses Tagebuch weiterzuführen, sondern schlafe sofort ein.
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« Antworten #34 am: 27. März 2018, 12:53:48 »

Montag, 26.3.  Seaside Science
Weil ich so früh eingepennt bin, habe ich Lauras Frage auf Line, ob ich spontan auf einen Tagesausflug nach Karatsu mikommen will, zu spät gesehen – aber vielleicht besser so, das hätte mich in Entscheidungsnöte gebracht – Spaß oder teuer bezahlter Unterricht? In der Mittagspause gehen Jan-Ole und ich vergeblich zum Jinshu (koreanisches Restaurant), es ist zu voll, daher billiges Bento vom Straßencaterer.
Im Nachmittagsunterricht von Frau Muraoka habe ich wieder Konzentrationsschwierigkeiten, ob es am Thema, dem Nachmittagstief oder an ihrem Unterrichtsstil liegt, keine Ahnung. Da ich die Einzige bin, die um 14:30 aus hat, gehe ich alleine zur Momochi Seaside – nur um festzustellen, dass das City History Museum Montags zuhat (okay, das ist eigene Planungs-Dummheit) und dass das Robosquare nicht mehr hier, sondern umgezogen ist (die Informationen im Internet sind veraltet).
Kurzer Barfußgang am Strand – ich bin die einzige, die mit den Füßen ins Wasser geht - dann folge ich dem Fluss  (3km) bis zum Fukuoka City Science Museum in Ropponmatsu.
Der Eintritt in die Dauerausstellung kostet 500 Yen (auch hier wieder gut, dass mich die Sonderausstellung über Dinosaurier nicht interessiert, sonst wären es direkt 1500 gewesen). Das Museum ist voller kleiner Kinder – daher ist es leider nicht so einfach, die interaktiven Ausstellungsstücke in der vorgesehenen Weise zu nutzen, weil die einfach nur drauf rum tatschen und daddeln wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Lerneffekt hoch ist, aber viele Exponate machen Spaß – wie z.B. die Schnellschusskamera, die Videos aufnimmt, wie man einen Weitsprung macht (bei mir bedeutet das vor allem „flatternder Schal“), Verkehrskontrolle- und Abwasserkontrolle-Videospiele und sogar ein Zero-Gravity-Trainer, also so ein Sitz, der in alle Richtungen rotieren kann.
Dagegen bin ich vom Robosquare komplett enttäuscht. Bis auf drei Exponate darf man nichts davon anfassen, es sind fast alles nur Spielzeuge bis auf einen Industrieroboter in einem Schaukasten und die anfassbaren „Roboter“ (die Haustier-Ersatz-Plüschrobbe, eine Puppe und der Cubetto) sind bis auf den Cubetto, den ich schon vom Infosphere kenne, kaputt. Verschwendete Zeit!

Um 18 Uhr schließt das Museum schon, ich nehme den Weg zurück über den Fluss, vorbei an zwei Grundschulen mit blühenden Kirschbäumen rund um den Sandplatz, über den Kanal am Haus und werde von einem richtig guten Abendessen erwartet: Frittierter Tofu, weicher Tofu, Sojasprossen-Schweinefleisch-Berg, Tintenfischringe und Reis erwartet. Njam.
Wenn jetzt noch endlich die Rechnung für die Koiflaggen kommen würde, dieses blöde Bezahlsystem!
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« Antworten #35 am: 27. März 2018, 13:22:16 »

Dienstag, 27. 3.  Fukuoka City Museum
Ich lade morgens vor dem Unterricht fleißig Leute zum Yozakura Mittwoch nachts ein und Frau Ueda zieht mich zur Seite, um mir zu sagen, dass Gigi der Unterricht zu schnell geht und er um ein langsameres Tempo gebeten hat, sie sich aber schlecht dabei fühlt, mich und Zhi Ye immer warten zu lassen. Ich schlage ihr vor, dass sie uns Sonderaufgaben zur Beschäftigung geben soll.
In der Mittagspause scoute ich die Resona-Bankfiliale und versuche vergeblich, im Family-Mart-Kombini etwas Brot-Ähnliches zum Aufbrauchen meines Frischkäses zu finden und nehme mangels Alternativen am Ende ein Kare-Pan (frittierter Teigball mit Curry-Füllung) und Mochi-Stangen. Seufz, Weichbrot...
Meine Nachmittagslehrerin ist heute Frau Kumagae, mit der ich weiter durch die grammatischen Standard-Satzmuster gehe (wieso gibt es davon so viele??). Sie geht deutlich langsamer vor und schreibt zusätzliche Beispielsätze an – dafür sind ihre Erklärungen schwerer verständlich als die von Frau Morioka.
Nach der Schule habe ich mich mit Lena in Hakata verabredet, nur leider vergessen, ihr zu sagen, dass es von der Schule aus eine halbe Stunde dauert. Wir treffen uns am Haupteingang und gehen dann zu Fuß nach Kawabata in die Shoutengai, mit einem Zwischenstop im Kushida Jinja (deutlich weniger Leute als am Wochenende und diesmal mit voll aufgeblühten Kirschbäumen). Ich kaufe zwei Touri-Souvenirs in einem 100Yen-Laden, finde leider keinen passenden Visitenkartenhalter aus Hakata-Ori und ärgere mich, dass die Zenzai-Bude an diesem Tag nicht aufhat.
Am Ausgang der Ladenstraße steigen wir in die U-Bahn und fahren nach Nishijin, um zu Fuß zum City History Museum zu gehen. Na toll, das hat auch nur bis 17:30 auf, warum haben japanische Museen am Abend nicht auf? Die Stunde reicht gerade für einen Durchlauf durch die permanente Ausstellung – das Museum hat zwar weniger „Nationalschätze“ aufzuweisen als das Kokubutsukan in Dazaifu, aber dafür eine bessere Aufteilung und meiner Meinung nach die interessantere Aufmachung. Für das Verkleiden mit asiatischen Nationaltrachten (sind aber eh in schlechtem Zustand) bleibt keine Zeit mehr.
Lena war noch nicht am Meer, wir kaufen uns Eis in einem Konbini und sitzen am Strand und am Pier bis kurz vor dem Sonnenuntergang. Zur blauen Stunde ist die gesamte Szenerie verdammt idyllisch, samt fliegenden Fischen und roten Sonnenball hinter blauen Inseln am Horizont.
Da ich schlecht im Abschied-Sagen bin, ist dieser sehr am Eingang zur U-Bahn in Nishijin sehr kurz. Lena wird bis Juli in Fukuoka bleiben, also das gesamte deutsche Schuljahr. Bin etwas neidisch.
Auf dem Weg zu den Matsuos laufe ich wie jeden Abend nicht nur an zwei „Snacks“ (Hostessen-Bars), sondern auch an Siro Coffee vorbei, ein Cafe, das auf Instagram gehypt wird – obwohl es mitten in diesem Wohnviertel liegt, sind hier ständig junge, hippe Menschen, die auch Schlange stehen. Ich bin wahrscheinlich überkritisch, aber als ich sehe, dass es die Heißgetränke nur in Plastikbechern gibt und die Vorhänge des minimalistisch eingerichteten Cafes ungesäumter Ikea-Bomull sind, verspüre ich wenig Lust, dem Trend zu folgen.
Auch heute ist das Essen wirklich gut: Nudelsalat, weicher Tofu, Glasnudeln in Pilz-Miso-Sesam-Soße, Nira-Leber-Gebratenes, Reis, Hijiki-Furikake und Kimchi. Über die Nahrung im Matsuo-Haus kann ich mich sowas von nicht beklagen!
Jetzt nur nicht einschlafen, bis ich mit der Familie geskypt habe...
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« Antworten #36 am: 11. April 2018, 12:21:33 »

Mittwoch, 28.3. Haarschnitt und Hanami
Als ich Chiharu beim Frühstück erzähle, dass ich ein Hanami-Picknick organisiere, leiht sie mir zwei kleine Gewebeplanen, worüber ich mich sehr freue, denn dann muss ich keine Mülltüten im Konbini kaufen. Heute ist es auch wieder richtig warm und alle Kirschbäume im Viertel sind komplett aufgeblüht – überall hellrosa Wolken.
Einen kleinen „Wtf?“-Moment habe ich beim Herabsteigen in die U-Bahn. Es hat nicht nur irgendjemand schwarze Tinte über die Stufen gekippt, auf der Treppe kommt mir auch ein alter glatzköpfiger Mann in einer Mittelschul-Mädchen-Schuluniform entgegen. Aber alle Japaner, die zur Arbeit eilen, würdigen dem seltsamen Auftritt noch nicht einmal einen Blick...
Ich erinnere alle in der Schule nochmal an die Zeit, wann wir uns treffen wollen (19:15, damit auch die beiden Praktikantinnen Zhiyi und Laura die Chance haben, nach der Arbeit dazu zu stoßen). Bis auf Birte und Gigi kommen alle mit.
Während der Mittagspause erledige ich dann einen ganz großen Punkt auf meiner To-Do-Liste: Endlich die Bezahlung für die blöden Koifahnen vornehmen. Ich ärgere mich zwar, dass das von dem Rakuten-Shop beauftragte Inkasso-After-Sale-Unternehmen Nissen unfähig ist und mir nach zwei Wochen, mehreren Nachfragen (von Chiharu auf sprachliche Richtigkeit gecheckt), nochmaliger Bestätigung der Adresse und der Bitte, mir die Rechnung doch als Email-Anhang zu schicken, immer noch nicht die Rechnung und Anleitung für die Zahlung beim Konbini geschickt hat. Deppen! Deswegen muss ich jetzt extra nach Tenjin zu der Risona-Bank rennen, bei der Nissen sein Konto hat (bei allen Fremdbanken müsste ich horrende Überweisungsgebühren zahlen) und den ziemlich komplizierten Prozess des „Genkinfurikomi“ (Überweisung ohne eigenes Bankkonto durch Einzahlen von Bargeld) durchlaufen, natürlich komplett auf Japanisch, weil es für diesen Service kein Englisch gibt - und komplett mit Bank-Fachbegriff-Kanji.
Laura kommt als moralischer Support mit – den ich auch bitter benötige, weil der Automat, als ich nicht schnell genug passendes Kleingeld finde und einwerfe, die Transaktion unterbricht – waah! Ich habe zwar ein etwas schlechtes Gewissen, weil danach ein Bankangestellter wartend dabei steht, ohne dass ich ihn um Hilfe bitte, aber der zweite Anlauf klappt dann doch.
Nach der Schule habe ich um 15:00 den per Email verabredeten Friseurtermin bei Nakamura, einem Friseur, der in New York gearbeitet hat (Mode-Fotoshoots, auch z.B. für Vogue). Ich bin alleine im Laden und sage dem „Biyoushi“ Yasu, dass meine einzige Bedingung ist, dass ich noch einen Pferdeschwanz machen kann, er macht für mich das Vorher-Foto und schneidet dann unzeremoniell meinen Zopf ab.
Dann wäscht er meine Haare – trotz Kopfmassage fühlt sich das für mich eher komisch als entspannend an. Ich bin auch erstaunt, wie schnell der eigentliche Haarschnitt vorbei ist – fast bin ich enttäuscht, aber dann beginnt erst das eigentliche Styling, mit Glätteisen werden meine Kringelöckchen begradigt, mit Lockenstab Wellen in die nun schulterlangen Haare gemacht und dann Gel reingerieben. Lustig, dass er genau dieselbe Länge gewählt wie das eine andere Mal, als ich bei einem teuren Friseur war (Anfang Studium in Bonn, suchten Haarmodelle).  Nach Tipps zur Haarpflege (mein Haar sei zu trocken => Haaröl, nicht mit nassen Haaren schlafen gehen) und der Verneinung der Frage, ob ich mit kurzen Haaren besser aussehen würde. Ich zahle die 5400 Yen (42 Euro) und bewundere in jedem Spiegel das ungewohnte Seitenprofil.
Da ich noch viel Zeit habe, schlendere ich durch Daimyo, das Szeneviertel. Jede Menge Hipster-Cafés, Secondhandläden, kleine Boutiquen (aber ich weiß ja schon, dass mir nichts davon passt, grr) und Restaurants. Ich verstehe, warum hier so viele junge Leute sind.
Ich komme am Iwataya aus, auch hier ist viel los. Mein Versuch, das Ashiyu (heißes Fußbad) im Kego-Schrein zu nutzen, scheitert schon wieder an den Öffnungszeiten, der Tempeldiener bringt vor meinen Augen die „Geschlossen“-Balken an. Seufz...
Da ich noch Zeit habe bis zur kostenlosen Klasse um 18h steige ich auf das Acros, ein Hochhaus direkt neben dem Rathaus. Die gesamte Südseite ist terrassenförmig angelegt und alle 14 Stufen sind mit Bäumen bepflanzt, damit das Gebäude wie ein bewaldeter Berg inmitten der Stadt aussieht. Das Acros ist von einem amerikanischen Architekten entworfen worden, Emilio Ambasz, der das Gebäude mit dem Park davor verbinden wollte. Eine grüne Oase, in den Bäumen und Sträuchern nisten Vögel, oben ist für eine sonnige Viertelstunde außer mir niemand und ich entspanne mich bei einem Blick auf die Stadt.
Auf dem Rückweg zur Schule habe ich Hunger und kaufe mir im Delikatessen-Keller von Iwataya bei einer dänischen Backwarenkette ein Brot, das zwar auch weich ist, aber zumindest Graubrot. , Wieder in Daimyo, komme ich an dem French-Toast (Armer Ritter)-Cafe Ivorish vorbei, das ich in einem Youtube-Video gesehen habe. Aber es ist nicht gerade günstig und sieht sehr süß aus. Stattdessen checke ich online, ob Jinju, das koreanische Restaurant, das beim letzten Mal zu voll hat, aufhat. Ja, hat es und es ist bis auf einen anderen Gast komplett leer. Ich bestelle Bibimbap im heißen Steintopf (njam, auch wenn ich mich fast verbrenne) und freue mich, dass das frische Kimchi, das sie als Beilage geben, absolut 1:1 denselben Geschmack hat wie mein selbstgemachtes Kimchi.
Die kostenlose Klasse heute ist die Fortsetzung von letzter Woche, also über die Sprachgeschichte der te-Form. Kuriyama-sensei erklärt anhand von gemalten Mundhöhlen, wie sich die Laute verändert haben – alles, weil Menschen von Natur aus faul sind und selbst die Zunge im Mund sowenig wie möglich bewegen wollen.
Um 19:00 renne ich aus dem Kursraum, weil Zhiyi geschrieben hat, dass sie zu früh ist. Stattdessen stehen Christian, Jan-Ole, David, Hana und Tobias (der Deutsche, den Jan-Ole für mich gefragt hatte, wo ich Anime-Merchandise kriegen kann und der Animate empfohlen hatte) am Eingang. Wir warten auf Lou-Manon, Zhiyi und Laura, ich lade noch die beiden japanischen Praktikantinnen ein, weil Jan-Ole meint, dass sie mitkommen wollten und wir machen uns Richtung Supermarkt auf.
Im Supermarkt wollen die Jungen sich harten Alkohol (Wodka oder Reisschnapps) holen, um ihn mit Cola zu mischen, aber ich will lieber – ganz traditionell – Bier fürs Hanami, plus Snacks zum Teilen.

Ich bin etwas beunruhigt, als ich merke, wieviele Leute sich trotz Dunkelheit Richtung Ohori Park bewegen, die Bürgersteige sind voll. Immer wieder verlieren wir Leute aus der Gruppe (meist für Touri-Foto-Machen), obwohl ich immer wieder anhalten lasse – ich fühle mich gerade, als ob ich die Lehrerin auf nem Klassenausflug wäre.
Laura hat geschrieben, dass sie im Ohori Park auf uns warten wird, kurz vor der Brücke und dem Weg hoch, über die sich die Menschen in den Maizuru Park schieben, kommt ihre leicht panische Nachricht, dass ihr Handy fast keine Batterie mehr hat. Sie schickt eine Location mit, ich bitte die Gruppe, auf mich zu warten und renne dorthin – keine Laura. Dann sehe ich, dass sie eine zweite Ortsangabe geschickt hat, die hinter dem Eingang liegt. Ich sage ihr, sie soll dort stehen bleiben und renne zurück. Wieder lasse ich die Gruppe warten, um Laura zu suchen, aber sie hat geschrieben, dass sie zum Eingang geht. Ich fluche, denn da wird sie noch schwieriger auszumachen sein. Mit der letzten Kraft ihres Akkus schickt sie ein Bild von sich vor einem Schild – und ich erinnere mich daran und finde sie.
Endlich haben wir alle Hanami-Willigen beisammen und gehen durch die Festwiese. Jede Menge Essstände – dich ich aber nicht in Anspruch nehmen werde, nachdem Christian erzählt hat, dass er die letzte Nacht nach dem Essen dort eine Lebensmittelvergiftung hatte -  und alles voll mit flanierenden japanischen Familien.
Wir bezahlen die 300Yen Eintritt für den Schlosspark, wo es am meisten Kirschbäume gibt und wo wir auch mit der Gastfamilie waren. Hier sind deutlich weniger Leute, die meisten davon auch eher Businesspeople. Wir breiten unsere „Picknickdecke“ aus, ich teile meine Snacks und Bier mit der Festgemeinde: Kekse, Chips, Mystery-Kumamoto-Süßigkeit, wahrscheinlich Rohrzucker. Zhiyi hat leckere Umeboshi-Essig-Chips und Anko-Dango. Nur schade, dass die beiden Japanerinnen sich in der Schlange am Kassenhäuschen verabschiedet haben, der Grund ist aber nachvollziehbar, sie müssen noch zurück nach Kita-Kyushuu, eine Dreiviertelstunde mit dem Zug.
Etwas enttäuscht bin ich auch von der Beleuchtung. Zwar gibt es überall Lichtakzente, wahrscheinlich von Schulen bemalte Laternen mit Szenen aus japanischen Märchen und Legenden und beleuchtete Bambus-Skulpturen, aber die auf die weißen Wipfel gerichteten Scheinwerfer wechseln nicht die Farbe, wie ich erwartet hatte.
Trotzdem ist die Atmosphäre sehr gut, überall lachende Menschen. Einige Firmen oder Uni-Clubs haben wohl auch Hanami-Ritual, Lieder oder Trinkspiele. Und auch bei uns wird der Abend zwar nicht besoffen, aber doch Alkohol-lockerer.  Man merkt, dass Laura schnell auf Hochprozentiges anspricht, sie wird auf jeden Fall noch redseliger und auch Zhiyi wird deutlich gelöster. Wir trinken uns durch Bier, Cider, Sake, den Lou mitgebracht hat und dann auch noch Import-Weißwein aus Italien, den ein sehr teuer angezogener Chinese aus der Nachbargruppe uns als internationalem Grüppchen anbietet, als er und seine ebenso schicke Begleitung (chinesische Musikerin, jap. Moderatorin bei lokalem Fernsehsender, Reiseführerin) sich auf den Heimweg machen. Lustig, dass er mehrfach auf Japanisch betont, dass er kein schlechter Mensch wäre, wahrscheinlich um uns zu sagen, dass er keine K.O.Tropfen in den Wein gekippt hat.
Um 21:30 steht der „Mädchen-Teil“ unserer Hanami-Gruppe auf, um die obligatorischen Fotos zu machen, danach sind die Jungen dran, bevor um viertel vor zehn schon die ersten Organisatoren mit Megaphonen rumlaufen, um anzukündigen, dass um 22 Uhr Schluss ist.
Praktisch auf die letzte Minute rennen wir nach dem Aufräumen hoch auf den Burgberg, um von dort Fotos vom Blütenmeer zu machen – bei mir sind die aber nichts geworden, meine Handykamera ist für Dunkelheit sehr schlecht.
Ich verabschiede mich von allen, wohl wissend, dass ich z.B. Laura nicht mehr sehen werde, weil sie ja nicht zur Schule geht. Da ich heute mein Teikiken vergessen habe, gehe ich zu Fuß durch den Park zurück, finde leider diesmal keine Katzen und bin um 23:00 zuhause. Chiharu und Nobutaka scheinen auf mich gewartet zu haben, daher verzichte ich auf die Dusche, räume das übrig gebliebene Bier in den Kühlschrank und sage Gute Nacht.
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« Antworten #37 am: 11. April 2018, 12:22:27 »

Donnerstag, 29.3. Reisevorbereitungstag
Heute gehe ich nach der Schule sofort nach Hause, um die schwarze Reisetasche zu packen, die ich mit dem Gepäcklieferservice direkt nach Tokyo schicken will. Oha, zwar wird die Tasche nicht schwer, aber sie ist schon ziemlich voll, hoffentlich kriege ich da den Reiskocher noch rein...
Die kostenlose englische Hotline von Yamato Kuroneko ist die ganze Zeit besetzt, erst nach einer halben Stunde komme ich durch und organisiere die Abholung des Koffers zu einem Zeitpunkt, der auch für die Matsuos passt. Der Mann an der Hotline verspricht mir, den passenden Transportzettel heute Abend durch einen Boten in den Briefkasten schmeißen zu lassen.
Danach schicke ich ein Foto des Überweisungsbelegs der Koikarpfen an die Deppen von Nissen und schicke dann in derselben Email meine englische Beschwerde – bin zwar im Gegensatz zu Chiharu nicht davon überzeugt, dass irgendjemand dort Englisch kann, aber auf Japanisch sind Beschwerden irgendwie... ineffektiv.
Noch während ich daran schreibe, überrascht mich Nobutaka damit, dass wir heute Abend zum Kaitensushi (Fließband-Sushi-Restaurant) gehen. Yay, das stand eh noch auf meiner Liste von Dingen, die ich in Japan ausprobieren wollte. Kura ist eine sehr beliebte Kaitensushi-Kette, dessen Restaurants von außen wie traditionelle Lagerhäuser aussehen sollen. Innen erwartet uns eine lange Schlange, komplett mit Nummern-Ziehen, aber Nobutaka hat einen Tisch reserviert.
Erster Eindruck: Überall Kinder! Und es ist laut, von überall kommen Klingeltöne, Durchsagen und das Klappern der Teller. Zunächst ist mir auch zu kalt, als wir uns setzen, daher bin ich Chiharu dankbar, als sie Instant-Grüntee anrührt. An jedem Tisch gibt es dafür Becher, Pulver, einen Heißwasserhahn – und natürlich ein Tablet, mit dem man bestellen kann, wenn die Auswahl auf dem Fließband nicht ausreicht. Bis auf das Mais-Mayonaisen-Gunkan ist alles lecker, Chawanmushi, teurere Fischsorten, die Nobutaka empfiehlt und Rindfleisch-Sushi, die Soya-Eiscreme ist aber etwas gewöhnungsbedürftig. Alles normale Sushi kommt auf einem kleinen Teller, den man dann in einen Schlitz schmeißt. Nach fünf Tellern zeigt das Tablet einen kurzen Zeichentrickfilm von glücksspielenden Manga-Charakteren. Wenn der Charakter gewinnt, hat man auch gewonnen und bekommt ein Gashapon (Überrasschungsei).
Nur schade, dass ich Bauchschmerzen habe und daher das Ess-Erlebnis nicht komplett genießen kann. Bin trotzdem pappsatt, als wir auf dem Nachhauseweg einen Zwischenstopp bei einem Supermarkt machen. Ich wünschte, es gäbe das ganze Gemüse und die Kräuter aus Japan auch bei uns, hier gibt es soviel, was ich noch nie gesehen habe. Da das aber alles erst gekocht werden muss, kaufe ich mir nur Möhren und die fertige Mizutaki-Brühe haben sie nicht, daher lässt Chiharu Nobutaka auch noch beim Reganet raus.
Vor dem Haus wartet schon die weiße Katze mit den schwarzen Flecken auf uns. Chiharu sagt, dass alle Nachbarn sie „Nyanko-Sensei“ nennen. Ich gebe ihr Trockenfutter, aber da wir nach 19:00 gekommen sind, hat sie wohl schon von den Studentinnen Essen bekommen und isst nicht alles auf.
Ich gehe duschen und dann bereite ich die Rede vor, die alle Schüler und Schülerinnen von Asahi Nihongo bei ihrem Abschied halten müssen. Dann klingelt mein Telefon, es ist Inge. Upps, ich habe Skype vergessen, gehe online und nach oben und spreche kurz mit den Eltern, auch um ihnen den Haarschnitt zu zeigen.
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« Antworten #38 am: 11. April 2018, 12:23:15 »

Freitag 30.3. Letzter Tag in Fukuoka
Um 5:56 wache ich schweißgebadet auf und gehe zur Toilette unten, um die Gasteleltern, deren Zimmer oben direkt neben der zweiten Toilette ist, nicht aufzuwecken. Keine Ahnung, ob das die Nachwirkungen der Bauschmerzen sind oder ob die Temperatur wirklich so gestiegen ist, dass selbst eine Lage Daunendecke zu warm ist (zu Beginn des Aufenthalts waren es die Daunendecke und zwei Plüschdecken, weil das Zimmer nicht geheizt wird). Als ich die Treppe hochsteige, kommt mir Nobutaka entegen, den ich damit etwas erschrecke. Ich bleibe noch etwas im Bett liegen, kann aber nicht einschlafen und stehe dann auf, als Nobutaka das Haus verlassen hat. Dass ich so früh dran bin, nutze ich, um zur Yamato Kuroneko-Filiale in Maizuru direkt gegenüber zur Schule zu gehen, um zu fragen, wie ich den Transportzettel korrekt ausfülle. Da alle Angestellten dort sehr beschäftigt sind und der junge Mann, der sich dann erbarmt, sich zu mir zu begeben, ständig von seinem tragbaren Bestellungsgerät abgelenkt wird, dauert es, bis ich ihm erklärt habe, was ich will. Er bestätigt den Code und den Namen der Filiale in Hauptbahnhof Tokyo, aber ich bin noch nicht überzeugt, ob jetzt alles richtig ausgefüllt ist.
Im Unterricht heute schaffen wir so gerade noch das Ende der Lektion 6 (langsam wegen Gigi) und in der Mittagspause werden die Zertifikate verliehen und die Reden gehalten. Ich kann es mir nicht verkneifen, nochmal eine Spitze gegen „Mr False Advertising“ (aka. meine Kontaktperson) einzubauen und Frau Muraoka findet es lustig, dass ich meine Rede auf die Rückseite eines Yamato-Transportzettels geschrieben haben – aber hey, der war falsch ausgefüllt und ich will nicht mehr Müll machen. Das Zertifikat ist auf jeden Fall schnieke, aber über die handschriftlichen Abschiedsworte der Lehrer freue ich mich noch mehr. Jan-Ole und Christian übergeben auch Geschenke, ich ärgere mich, nicht heute schon meine Haribo mitgenommen zu haben, weil mein Plan, die am Abreisetag zusammen mit dem Teikiken für Laura in der Schule zu deponieren, daran scheitert, dass diese nicht auf hat.
Nach dem Ende aller Reden (immerhin haben an diesem Freitag 6 Leute ihren „Abschluss“) verabschiede ich mich von Zhiyi, die aber bald in Kopenhagen studieren wird, daher ist es sehr wahrscheinlich, dass ich sie wiedersehen kann. Dann rufe ich noch schnell Kuroneko an, um nochmal sicherzustellen, dass alles in Ordnung ist. Der Mann dort sagt, dass ich einen orangen Transportzettel haben muss. Ich: „Häh? Der Zettel, den ich hier habe, ist rot oder pink.“ Langes Hin- und Her, bis sich herausstellt, dass wir vom selben Zettel reden, aber dass das Farbempfinden kulturell bedingt anders ist.
Ich entschuldige mich bei Frau Muraoka, da ich mit dem Anruf erst drei Minuten nach Unterrichtsglocke fertig werde. Heute machen wir Textverständnis-Übungen, das geht absolut problemlos, daher bin ich zu schnell fertig und sie erfindet schnell noch eine Aufgabe zum Abschluss, ich soll über meinen Heimatort einen Text schreiben – darin bin ich deutlich langsamer.
Ich verabschiede mich auch nochmal von ihr und renne dann die Treppe runter, um mich zum letzten mal mit meiner Tandempartnerin Mari zu treffen. Wir gehen wieder in den Backwarenladen Boul'Ange und danach sitzen wir im Kegopark, wo ich ihr auf meinem Laptop Tanzlieder vorspiele, weil sie hören wollte, was für eine Art Musik zu dem Hobby gehört.
Auf dem Rückweg zur Schule sehe ich jetzt tatsächlich einen einsamen Mann, der an einer Kreuzung mit einem Banner steht und gegen Atomkraft protestiert. Ich wäre gerne hin gegangen und hätte mit ihm geredet, aber es ist 17:54 und der letzte Unterricht heute fängt um 18:00 an.
Die Kanji-Stunde (wieder sind Gigi und ich die einzigen) heute beschäftigt sich mit den Kanji Fu, Ki, Ki (selten, Stoffrollen-Kanji) und Kalligraphieübungen – letzteres bringt mich dazu, evtl. doch nochmal zuhause in Deutschland zu schauen, ob ich die Reibetinte nicht mal ausprobiere, ich bin richtig schlecht darin, mit dem vertikal gehaltenen Pinsel schöne Kanji zu schreiben.
Kuriyama-Sensei erklärt in der Stunde danach ein paar Unterschiede zwischen Standard-Japanisch und dem lokalen Dialekt, Hakata-ben, vor allem die seltsam gebildete te-Form. Ah, das erklärt einige Namen von Geschäften, die ich gesehen habe.
Ich bin um 19:30 zuhause, wo Nobutaka und Chiharu schon mit dem Abschiedessen Mizutaki auf mich warten – wie immer lecker, muss ich nachkochen, soll ganz einfach sein. Nach dem Essen machen wir noch Fotos mit Selbstauslöser und als ich Kota fotografiere, schenkt mir Chiharu eine alte 2018-Neujahrskarte mit Kota in Samurai-Kleidung.
Auch heute habe ich immer noch Bauchschmerzen, ich glaube inzwischen, dass ich an die Periode komme – oder hoffe es, denn ein weiterer Krankheitsanfall kurz vor der Rundreise wäre kacke.
Ich packe den kleinen Rollkoffer (verdammt, auch voll), dusche ein letztes Mal – und werde dabei schon leicht wehmütig. Einerseits schätze ich meine Fähigkeit, mich sehr schnell an allen möglichen Orten auf der Welt einzugewöhnen, andererseits macht das Abschiede schwer – jedes „letzte Mal“ macht mich emotional, so auch jetzt das Wissen, dass ich heute Abend zum „letzten Mal“ mit Nobutaka, Chiharu und Kota auf der Couch sitze und fernsehe.
Kleiner Aufreger am Ende: Als ich die schwarze Reisetasche unten im Abstellraum hinstelle, will ich Chiharu die Nummer für das Schloss geben und probiere sie aus. Aber das Schloss geht nicht auf – waaah! Kann nicht sein, eben habe ich es doch damit aufbekommen. Chiharu und Nobutaka versuchen es auch, dann geht Nobutaka in die Garage, um Werkzeug zu finden, während ich versuche, zu rekonstruieren, was passiert sein könnte – habe ich aus Versehen beim Anbringen und Drehen des Bügels den Code auf eine neue Zahl eingestellt? Viel Hoffnung habe ich nicht, aber ich probiere „Brute Force“-Zahlen aus, die neben meinem alten Code liegen. Aus purem Zufall geht das Schloss beim zehnten Versuch auf. Puuh! Chiharu lacht und meint, das sei ja schon ein Wunder...
Ich rufe Nobutaka zu, dass ich das Schloss nicht zerstören muss und wir schauen den dritten Teil von Rurouni Kenshin zu Ende. Danach verabschiedet Nobutaka sich, als ich ins Bett gehen will, weil er davon ausgeht, dass er mich nicht mehr sieht, bevor er morgens das Haus verlässt.
Aber ich kann absolut nicht schlafen, renne mehrmals nachts zur Toilette. Aufregung, Krankheit oder Periode?
« Letzte Änderung: 11. April 2018, 12:34:48 von Maria » Gespeichert

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« Antworten #39 am: 11. April 2018, 12:36:19 »

Samstag 31.3. Hiroshima
Ich wache um 6:00 auf und kann nicht mehr schlafen, bin wieder schweißgebadet. Daher bekomme ich mit, als Nobutaka und Chiharu um 6:30 ihr Zimmer verlassen, ziehe mich an und verabschiede Nobutaka, als er seine rote, brachial aussehende Kawasaki (die Reifen sind fast Slicks!) aus der Garage holt, aufsteigt und „ausreitet“.
Da ich jetzt viel Zeit habe (der Shinkansen verlässt erst um 10:47 Hakata Station), ziehe ich nach dem Frühstück das Bett ab, hänge die Futons auf, als die Sonne aufgegangen ist und staubsauge.
Und dann ist immer noch Zeit übrig, die ich mit Fernsehen totschlage, die Stimmung ist etwas awkward. Um 9:00 sage ich Chiharu, dass ich jetzt aufbreche, sie schenkt mir eine Packung Müsli zum Abschied (leider crunchy mit viel Zucker) und begleitet mich nach draußen, mit Kota im Arm und umarmt mich vor der Haustür. Keine Ahnung, ob Periode oder Maria, aber ich habe schon wieder Tränen in den Augen. Chiharu wartet und winkt die ganze Zeit, als ich die Straße hochgehe, bis ich an der Reinigung um die Ecke biege.
In Akasaka steige ich aus und gehe zum letzten Mal den Schulweg. Anders als Akiko gesagt hat, ist die Tür unten offen, ich komme also an den Briefkasten und werfe eine meiner Stofftüten gefüllt mit Haribo ein, als kleines Geschenk fürs Personal. Eigentlich wollte ich Laura mein Teikiken geben, aber entscheide mich anders, weil sie mir auf die Line-Frage, ob sie es überhaupt brauchen kann, nicht geantwortet hat, stattdessen lasse ich ihr nur meine Visitenkarte da – indem ich sie Lukas, dem deutschen IT-Typen der Schule in die Hand drücke.
Ich komme in Hakata an und gehe pünktlich durch das Shinkansen-Gate. Der Zug kommt und ich suche meinen reservierten Platz. Der kleine Rollkoffer, den ich von Lars und Elli ausgeliehen habe, hat die perfekte Größe für die Gepäckregale. Leider ist Shinkansen keine so angenehme Erfahrung wie erwartet, zwar bequeme Sitze und Fußfreiheit, aber leider wird mir bei der Hochgeschwindigkeitsfahrt ganz leicht übel, vor allem bei der Fahrt durch lange Tunnel spüre ich den Druck in den Ohren. Und auch sonst habe ich wohl gerade Pech: Es ist schon ungewöhnlich, wenn Shinkansen ein paar Minuten zu spät sind – meiner hat am Ende 45 (!) Minuten Verspätung, weil wir mehrfach halten müssen. Der Grund ist, dass ein vorausfahrender Zug technische Probleme hat und erst gründlich untersucht werden muss, bevor gestattet wird, dass er weiterfährt. Keiner der Japaner um mich herum beschwert sich, aber man merkt, dass alle ihre Handys zücken, um auf der Arbeit per Text Bescheid zu geben.
Endlich kommen wir in Hiroshima an, ich habe mich an die automatische Durchsage gehalten und mich schon ein paar Minuten vorher Richtung Tür begeben (die Shinkansen stoppen nur sehr kurz an Bahnhöfen), aber da wir wieder mehrmals halten müssen, damit die vorfahrenden Züge in den Bahnhof kommen können, stehe ich jetzt sehr lange.
Laut der Webseite meines ersten Hostels soll ich in die Tram einsteigen. Mache ich auch, nur um zu merken, dass ich zwar weiß, dass ich in die richtige Linie eingestiegen bin und was mein Ziel ist, ich aber keine Ahnung habe, wie ich bezahlen soll. Wenn ich die IC-Karte benutzen wollte, hätte ich beim Einsteigen schon den Sensor berühren müssen und ich habe sehr wenig Kleingeld. Daher achte ich wie ein Adler darauf, in welcher Form die Aussteigenden bezahlen und in welcher Zone wir gerade sind. Puh, mein Kleingeld reicht so gerade.
Die Anleitung, das Hostel zu finden, ist einfach. Drinnen zieht man am Eingang die Schuhe aus. Nur leider ist an der Rezeption keiner, ich mache in Japanisch auf mich aufmerksam, als ich aus einem Lagerraum Geräusche höre. Dann kann ich meinen Koffer (und schwere Dinge aus meinem Rucksack) im Gepäckraum lassen, kriege noch den Tür-Code, falls ich vor 15 Uhr zurück sein will (habe ich nicht vor) und orientiere mich per Google Maps. Das Hostel liegt sehr gut, bis zum Friedenspark sind es nur 5 Minuten zu Fuß.
Auch heute ist es wieder sehr sonnig, daher setze ich mich erstmal auf eine Mauer im Schatten und tragen Sonnencreme auf – auch wenn das für mein nächstes Ziel nicht nötig ist, das Peace Museum.
Leider wird das Hauptgebäude des Museums gerade renoviert, daher sind nur Teile der permanenten Ausstellung im Nebengebäude zu sehen, ich gehe natürlich trotzdem rein. Ziemlich voll, ist ja auch Wochenende., Schulferien und Kirschblüten-Saison.
Als ich an der Rezeption nach den auf Schildern angepriesenen „Volunteer Guides“ frage, ruft die Dame jemanden an. Als sie bestätigend wiederholt, dass es keine englischsprachigen Guides mehr gibt, nur japanische und gerade auflegen will, sage ich ihr auf Japanisch, dass ich auch einen japanischsprachigen Guide nehmen würde.
Mein Guide in grüner Uniform-Jacke heißt Herr Suegaoka und ist bemerkenswert faltenfrei für seine über 80 Jahre. Er beginnt damit, dass er aus Hiroshima stammt und sein Elternhaus auf der anderen Seite des Flusses war, in der Nähe des Hostels. Er ist also tatsächlich Zeitzeuge, 1945 muss er zwischen 7 und 9 Jahren alt gewesen sein.
Er leitet mich durch die Ausstellung. Alles, was er sagt verstehe ich nicht, aber den Großteil und die Bilder helfen. Die Ausstellung beginnt mit Bildern des Hiroshimas in den 20er und 30er-Jahren. Der
6. August 1945 wird dann als animierte Stadtkarte auf dem Boden mit 5 Metern Durchmessern dargestellt. Sie wechselt zwischen dem heutigen Hiroshima, Hiroshima vor der Bombe, dem Abwurf, der Explosion, der Druckwelle und der zerstörten Stadt nur wenige Sekunden danach.
Die Auslöschung der gesamten Stadt in einem Radius von 3km hat weniger als 10 Sekunden gedauert! Einige der Zahlen, die Herr Suegaoka nennt, sind nicht wirklich vorstellbar, dass überhaupt jemand den enormen Druck und die Temperatur in der Todeszone von 1km (wenn auch nur kurz) überlebt hat.
Die Bilder und Ausstellungsstücke sind drastisch – neben einem Raum, der den Weg zum Bombenbau, die Entscheidung des „Target Committee“ und die Technik der beiden auf Japan abgeworfenen Atombomben illustriert – sind es vor allem die Fotos mitsamt den Beschreibung von Herrn Suegaoka, die mich irgendwann doch zum Heulen bringen (wobei ich wirklich glaube, dass ich gerade kurz vor der Periode bin). Er erzählt, dass es auch in seiner Familie Krebs- und Leukämieopfer gibt und dass niemand sagen kann, wann es ausbricht – er wäre zwar von allen Ärzten als gesund bezeichnet worden, aber das hieße nichts.
Am schlimmsten sind die Ausstellungsstücke, die Kindern gehörten, z.B. ein Dreirad oder die Bentoboxen mit dem verkohlten Essen. Am 6. August waren sehr viele Kinder im Hypozentrum, da Schüler und Schülerinnen ab der Mittelschule für den Arbeitsdienst im Krieg mobilisiert worden waren und dort Häuser niederreißen sollten, um eine Feuerschneise zu schaffen.
Ich bedanke mich bei meinem Museumsführer (habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn in Beschlag genommen habe statt Japanern, die seine Erklärungen besser schätzen könnten) und kaufe im Museumsshop noch einen Sticker. Und ich bin stark versucht, Tobi ein T-Shirt als Kontrast zu dem Los Alamos-Shirt zu kaufen, aber natürlich gibt es das nicht in seiner Größe.
Im Friedenspark sehe ich mir auch alles an, was es gibt: Zuerst die von Touristen weniger besuchte Gedenkstätte mit den Namen der Opfer (kostenloser Eintritt, lohnt sich alleine wegen der Zeitzeugenberichte auf Film und in der Bibliothek), Ewige Flamme, Friedensglocke... Am Denkmal für die Kinder falte ich einen kleinen Kranich, den man dann in die an diesem Tag offene Hütte legt.
Der Park ist voll, aber nicht nur Touristen, sondern vor allem Einheimische, die Hanami machen. Jeder Kirschbaum ist umgeben von lachenden sitzenden (oder schlafenden) Menschen, was auch meine Stimmung hebt.
Über die T-Brücke, die der Zielort des Atombombenabwurfs für den amerikanischen Bomber war, gehe ich auf die andere Seite des Flusses zum Genbaku Domu (Atombomen-Dom), dem Unesco-Welterbe. Bis auf stützende Maßnahme ist er komplett im Zustand von 1945 gelassen worden, die Trümmer blieben auf dem Boden liegen, nur das Unkraut wird entfernt. Am deutlichsten zeigen die verbogenen Metallwendeltreppen und das kompett evaporierte Dach (war aus Bronze), wie heiß die Explosion gewesen sein muss.
Es ist kurz vor 18 Uhr und ich habe genug Geschichte gesehen – Hunger! Nach kurzer Überlegung, ob ich irgendwo ein Restaurant in der Nähe suchen soll, entscheide ich mich stattdessen für traditionelles Hiroshima-Style-Okonomiyaki im Okonomiyakimura. Das ist ein Gebäude mit vier Etagen Okonomiyaki-Shops. Ich fahre in den vierten Stock, weil im ersten Stock bereits alles voll ist und setze mich in den Stand einer alten Frau. Dort sitzt eine japanische Familie mit Kindern und vorne am Tresen ein Westler – was dafür sorgt, dass sie denkt, dass wir zusammengehören – was wir beide auf Japanisch verneinen. Er arbeitet bei einer japanischen Bank.
Im Hintergrund laufen zwei Fernseher, einer mit Detective Conan, der andere mit K-Pop-Videos, warum auch immer. Ich bestelle ein normales Butatama-Okonomiyaki (Schweinefleisch, Ei) und einen Oolongtee.
Hiroshima-Style ist anders als das, was ich zuhause mache: Hier wird auf einem Teppan (heiße Platte) erst ein Crepe gemacht, der mit Kohl beladen wird, darauf kommen andere Zutaten (Gemüse, Mochi, Shrimps, Udon, Soba), die aber zuerst separat angebraten werden, oben drauf Speckstreifen und dann wird ein Ei drauf geschlagen. Zuletzt wird das „Sandwich“ gewendet und garniert und dann zum Kunden geschoben. Heiß, lecker.
Während ich esse, kommen mehrmals Reisegruppen rein, die durch das Gebäude geführt werden, aber solche großen Gruppen finden in den Büdchen nie geschlossen Platz.
Auf dem Rückweg komme ich durch eine Shoutengai und Gogatsu-Ningyou-Läden vorbei (Spielzeugläden, die auch Dekorationen für Hinamatsuri und Koinobori anbieten). Hmm, hier hätte ich auch das Flaggenset kaufen können und mir den Ärger mit den Nissen-Deppen erspart.
Im Hostel beziehe ich meine Hochbett-Koje im 6er-Frauen-Zimmer. Außer einem Futon gibt es eine kleine Kommode, Spiegel, Lampe und Steckdosen. Auch hier frage ich mich angesichts der dicken Daunendecke, ob Nächte in Japan so kalt sind – wenn ich an meine drei Schichten Flausch-Decken in Fukuoka denke. Ich nutze nur den Bezug als Decke und lege die Daunenschicht auf den Boden – ist eh bequemer, der Futon unten ist dünn.
Das J-Hoppers Hostel hat gut aufgeteilte Sanitäranlagen (zwei Klos, zwei Duschen, zwei Waschbecken pro Etage), aber ich dusche heute nicht, sondern gehe ins Bett, nachdem ich Whatsapp (weil Wegwerf-Sim) installiert habe und mit Götz und Lars gechattet habe.
Ich hatte in der Woche davor in Takamatsu bei der Gastfamilie Nakamura angerufen, wo ich am längsten war, der ehemaligen Präsidentin der Japanisch-Deutschen-Gesellschaft Kagawa, aber am Telefon nur die Tochter bekommen, die mir sagte, dass „Omi“ (wie ich sie nennen sollte) nach einer Knie-OP in ambulanter Reha ist. Die Tochter hatte, in einer Mischung aus Deutsch, Japanisch und Englisch gesagt, dass sie ihre Mutterfragen wird. 
Da sie sich aber nicht mehr gemeldet hat, habe ich Momoko um Hilfe gebeten, um zu fragen, wie ich das verstehen soll. Einerseits kann es sein, dass sie meine Nummer falsch aufgeschrieben hat, andererseits kann das eine indirekte Zurückweisung sein. Momoko rät davon ab, nochmal anzurufen. Sehr schade, Frau Nakamura ist alt und ich bin mir nicht mal sicher, ob ihr Mann, dem ich damals russische Zeitungen geschickt habe, noch lebt.
Stattdessen buche ich im Bett liegend ein Hostel in Osaka, das einigermaßen günstig ist. Ein Nachteil von billigen Unterkünften zeigt sich gerade in diesem Moment: Im Nebenzimmer brüllt ein Baby, was wegen der dünnen Wände deutlich zu hören ist – aber ich habe auch keine Ahnung, welche Eltern mit einem Kleinkind in Schlafsälen übernachten...
Da ich glaube, mit meiner Laptop-Tastatur beim Tippen auch zu einem Ärgernis zu werden, höre ich nach 22:00 auf, weiter an diesem Tagebuch zu schreiben.
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« Antworten #40 am: 11. April 2018, 12:39:06 »

Sonntag 1.4. Miyajima  - Teil 1 
Es gibt eine Sache, die mich in Japan stört und das sind die kurzen Öffnungszeiten aller Sehenswürdigkeiten. Fast alles hier macht um 17:30 schon zu (warum? Weil das die normalen Arbeitszeiten sind?). Daher hatte ich es am Vortag nicht geschafft, den Shukkeien („Miniatur-Landschaft-Garten“) zu besichtigen.
Ich verlasse, nachdem ich im Aufenthaltsraum die Gespräche von Kanadierinnen belauscht und mir Tee gemacht habe, das Hostel durch den jetzt noch leeren Friedenspark, vorbei am Sportzentrum – und merke, dass die Burg auch ganz nahe ist, da ich an der Außenmauer vorbei komme.
Der Park ist direkt neben dem Kunstmuseum (Ausstellung gerade: „La Parisienne – Pariser Frauenbilder seit 1700“ - aber ich habe keine Zeit). Ich bin 5 Minuten zu früh und warte mit einigen Japanern darauf, dass sich die Türen pünktlich um 9:00 öffnen.
Direkt hinter dem Eingang sind die ersten voll aufgeblühten Kirschbäume, Neuzüchtungen, denen mehrere Farben aufgepropft worden sind. Die Japaner, die mit mir als erste Gruppe hineingekommen sind, sind aus zwei Gründen so früh: Fotografen oder weil sie sich Hanami-Plätze sichern wollen. Ich versuche erst mal, außen um den Park zu laufen, um zu schauen, wie groß er ist. Dabei finde ich eine getigerte Katze, aber sie ist so jung, dass sie sich von jedem Schmetterling und wackelnden Blatt ablenken lässt.
Der Park ist sehr schön, ich kaufe mir Karpfenfutter und starre fasziniert auf das Gewimmel unter der Brücke – die einzigen beiden Punkte, die ich nicht verstehe, sind der verwahrloste Kräutergarten und dass man es hier mit der Sicherheit übertreibt. Die Trittsteine über den Bach darf man nicht begehen, weil man ins Wasser fallen könnte, daher sperrt man lieber den ganzen Weg – seufz.
Nach einer Stunde Lustwandeln nutze ich das Rabattticket für das Museumscafé und sitze ganz kitschig mit einem Matcha in der Hand und Wagashi auf einem Tellerchen vor mir auf rot bezogener Bank unter fallenden Kirschblüten. Sehr entspannend und – klischee-japanisch...
Auf dem Rückweg biege ich zum Rijo-Castle ab, und klettere über Festungsmauern, aber ohne auf den Burgturm zu steigen. Im Park treffe ich die gleichen Nasen wie auch schon im Shukkeien und an der Burg, wir grüßen uns als „fellow tourists“. Im Ninomaru (zweiter Verteidigungsring) schaue ich mir die Fotos an, die zeigen, wie dieser Teil der Burg ab den 90ern wieder aufgebaut worden ist, nach traditionellen Methoden.
Nach Abholen meines Gepäcks steige ich in die Hiroden (auch bekannt als „Hiroshimas Straßenbahn-Museum“, da die Verkehrsbetriebe überall in Japan Tram-Wagen aufkaufen) und fahre nach Miyajimaguchi, was sehr lange dauert. Kurz vor dem Hafen spricht mich die junge Japanerin neben mir mich auf Englisch an, wir reden über Reisen und Miyajima. Sie heißt Asami und wird sich auf der Insel mit Freunden treffen – auch internationale Studenten.
Ich bin etwas überrumpelt, als sie mich um Facebook-Freundschaft bittet, zeige ihr aber mein Profil und lasse mich zu Line überreden – auch wenn ich nicht glaube, dass ich viel Zeit haben werde, im Gegensatz zu mir macht Asamis Gruppe nur einen Tagesausflug.
Wir trennen uns, nachdem die Fähre angelegt hat, ich will zuerst mein Gepäck loswerden – gar nicht so einfach, da der Pier sowas von überfüllt ist. Natürlich sind die Menschenmengen da am dichtesten, wo die halbzahmen Rehe sind oder nahe des ikonischen Torii (Tempelbogen).
Ich folge der bebilderten Anleitung des Gästehauses. Das Haus, früher ein Schulungsheim des Finanzministeriums, ist größer als erwartet. Drinnen erwartet mich nach dem Eingang erstmal eine Art Kunstausstellung, links Chirimen und Glasperlen mit zwei älteren Damen, rechts der Aufenthaltsraum mit allem Möglichen, vom traditionellen Intarsienschrank bis zum Pokemon-Plüschtier.
Den Empfang (auf Englisch) übernimmt ein junger europäischer Mann, dessen Akzent sich sehr deutsch anhört. Jupp, ist Deutscher und seine Freundin sortiert gerade Wäsche – es ist Mittagszeit.
Ich kann meinen Koffer dalassen, den Safe schon für den Inhalt meines Rucksacks nutzen und der Work-and-Travel-Junge beantwortet meine Fragen zur Besteigung des Mount Misen.
Hmm, wenn ich noch vor der letzten Seilbahnfahrt und vor dem Torschluss des Daishouin-Tempels auf dem Weg den Berg runter sein will, kann ich nicht erst nach 15 Uhr hoch (wollte eigentlich erst etwas essen, Schrein besuchen, einchecken), daher Planänderung: Ich ziehe mich jetzt um und sage Asami Bescheid, dass ich nichts mit ihrer Gruppe unternehmen kann, weil ich erst auf den Misen klettere.
In voller Jogging-Kleidung plus Baseballcap und mit dicker Schicht Sonnencreme auf der Haut gehe ich durch die Stadt, vorbei am Aquarium (da reichen mir die Durchsagen, um zu wissen, warum ich da nicht rein will, arme Tiere) – aber finde nirgendwo einen Getränkeautomaten, an dem ich mich für die Wanderung mit Wasser eindecken kann.
Ich frage im Omoto Park einen der Blätter aufrechenden Gärtner und schleiche mich (äh, gehe selbstbewusst, als ob ich da hin gehöre) auf seinen Rat hin in ein Nobelhotel ein, das in einer Ecke einen Automaten hat.
Mein Rucksack ist um eine Flasche Wasser und eine Flasche Mugi-Cha schwerer, ich nicke den Gärtnern dankend zu und lasse bald die Rehe im Park und die Warnschilder (Schlangen! Rutschige Steine! Keine Toiletten auf dem Weg!) hinter mir.
Dieser Pfad ist der längste und einsamste, bis auf einzelne japanische Entgegenkommende bin ich allein mit Felsen, sich windenden Steinstufen, gefallenen Baumstämmen, Überresten von Erdrutschen, uralten Bäumen und Vögeln. Nach gut einem Kilometer wird der Pfad deutlich steiler und ich bemerke, dass es Wegmarker mit Zahlen gibt, aber ohne zu wissen, bis wo sie hochzählen, bringen sie nichts.
An einem bestimmt 10m hohen Felsbrocken mache ich ein Selbstauslöser-Selfie (Gott, ich bin in solchen Fotos so schlecht) und trinke meinen noch kalten Mugi-Cha.
Flüssigkeit ist auch bitter nötig, ab jetzt sind es fast nur noch schroffe Stufen (ich hasse Stufen!), die kein Ende nehmen wollen und ich schwitze. Irgendwann kommt es mir vor, als ob ich nur noch in Zeitlupe die Füße auf den nächsten Tritte heben kann. Vielleicht war es ganz gut, dass ich heute nicht auch noch den „Miyajima Marathon“ (äh ja, das 5km-Rennen) gelaufen bin.
Angenehm ist da die kühle Luft, die aus den kleinen Höhlen am Wegesrand weht, die alle mit Buddhastatuen geschmückt sind. Der Misen gilt nämlich auch als heiliger Berg, weil der Mönch Kukai (Kobo Daishi, der Begründer der Shingon-Sekte), hier meditiert und eine ewige Flamme hinterlassen haben soll, mit der auch das Friedensparkfeuer in Hiroshima entzündet wurde.
Als ich heftiges Rauschen in den Baumwipfeln über mir höre, weiß ich, dass ich nicht mehr weit von der Bergspitze entfernt sein kann. Das ist der Komabayashi Peak, ein kleinerer Berg neben dem Misen. Von hier geht es wieder herunter, ich überhole ein Pärchen, das in die selbe Richtung wie ich wandert und wundere mich über ihre Ausrüstung. Er trägt außer einem Rucksack zwei Plastiktüten in der Hand, sie trägt gar nichts, geht dafür quälend langsam an zwei aus dem Wald geklaubten Stöcken und hat als Schuhe nur Espandrilles an und fast die gesamten Füße mit Pflastern bedeckt.
Was für ein Unterschied zu den meist gut ausgerüsteten japanischen Omai, die mir bis jetzt entgegen gekommen sind und alle freundlichen grüßen oder sogar „Ganbare“ (Viel Erfolg!) wünschen. Als die beiden auf einer Felsspitze Rast machen, um Fotos zu machen (Er: „Geh nicht so nah an den Rand, ich habe Angst.“), überhole ich sie.
Am Nijo-Gate, das den Rand des Tempelbezirks markiert, stößt der Omoto-Pfad auf zwei andere Pfade und vereinigt sich mit dem Daishouin und Okunoin-Pfad. Hier sind auf einmal wieder Leute, die meisten kommen den Berg herab. An einer automatischen Menschen-Zählschranke vorbei gehe ich zur Bergspitze, und mache die obligatorische Fotos der Seto-Inlandssee. Der Ausblick ist großartig, aber mit dem Wind hier oben ist es mir einen Ticken zu kalt, ich habe Angst, mich zu erkälten, weil ich geschwitzt habe. Daher setze ich mich nicht wie geplant auf einen der Felsen und esse mein Brot, sondern gehe zur Toilette und halte mich an die Wasserspar-Bitten.
Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass ich nur 1 Stunde und 15 Minuten gebraucht habe, obwohl ich selbst mein Tempo als schneckig empfunden haben. Offiziell veranschlagt sind für den Omoto-Pfad 120 Minuten, der Deutsche im Mikuniya sprach von 2,5 Stunden.
Neben der Toilette ist ein winziger Shop, in dem die Mount Misen Conservation Association Karten und Süßigkeiten verkauft, deren Erlös zur Bewahrung des Naturparks beiträgt. Ich hole mir ein Tengu-Lesezeichen und der nette alte Mann dort bietet mir ein japanisches Bonbon an. Ich erwidere die Geste mit einem deutschen Salbeibonbon.
Kurzer Abstecher zum Tempel unterhalb des Gipfels – aber bis auf die Reikado-Halle nichts Interessantes und rein gehe ich auch nicht, zuviele Leute. Nachdem ich einem indischen Ehepaar den Weg zur Fähre auf der Karte erklärt habe, laufe ich den Daishouin-Pfad runter und bin froh, ihn nicht hochgegangen zu sein: Fast alle, die den Berg herunter laufen, nutzen diesen Weg (aka. Gegenverkehr), der Pfad ist ausgebaut, komplett mit Asphalt, Abwasserrohren daneben und Geländern.
Ich überhole die langsamen Spaziergänger an Stellen, wo sie für Fotos anhalten, bemitleide ein paar hochsteigende rotgesichtige Europäer (Sonnencreme, Jungs!) und halte nur für eine Kostprobe des Wassers an einem Damm und für den Blick auf den Shirai-Wasserfall an.
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« Antworten #41 am: 11. April 2018, 12:40:06 »

Sonntag 1.4. Miyajima - Teil 2
In kurzer Zeit komme ich erst an einem kleinen Holztempel vorbei, dessen Balken gerade von einem Mönch und einen Novize gewissenhaft abgerieben werden. Der Daishouin erstreckt sich auf mehreren Terrassen direkt neben dem Fluß. Drinnen ist eine Kunstausstellung von Metallskulpturen und ein kleiner Flohmarkt, dessen Aussteller aber gerade mit dem Einpacken anfangen, daher störe ich sie nicht. Ich hinterlasse als Tempelspende wieder Weihrauch und steige die Gebetsrollen drehend, die lange Haupttreppe hinab.
Ich will mich beeilen, weil ich vom Berg und von hier aus gesehen habe, dass gerade Ebbe ist, d.h. man kann zu Fuß zu dem roten Torii gehen – ich habe vergessen, mir im Gästehaus zu merken, wie lange die Ebbe dauert und habe Angst, sie zu verpassen.
Vollkommen unbegründet, der Fließrichtung des Wassers in den Tidenpfützen nach zu urteilen (aufs Meer hinaus) ist noch nicht mal der Tiefstand erreicht. Ich schüttele innerlich ein wenig den Kopf über die Verschwendung von Geld, als ich sehe, dass überall um das Tor herum Münzen liegen (und zwar nicht nur 1-Yen-Alumünzen, sondern auch wertvollere Sorten), weil alle versuchen, Münzen so auf den Torii zu werfen, dass sie darauf liegen bleiben.
Hinter dem Bogen hocken Watt-Muschelsucher im Schlick, die mit Eimerchen und Schäufelchen nach Essbarem graben.
Auf dem Rückweg nutze ich die Tatsache, dass die Ebbe dafür sorgt, dass der Itsukujina gerade weniger Besucher hat. Ich muss sagen, dass der Rundkurs, durch den man gelotst wird, die 300Yen Eintritt nicht wert ist, zwar sind die die beiden Bühnen interessant, aber sonst ist der Schreinkomplex auch von außen gut sichtbar.
Ich mache noch einen Schlenker zum buddhistischen Tempel daneben, aber einen Bogen um die Souvenir-Läden. Erstens, weil es teilweise hart teurer Kitsch ist, zweitens, weil ich eh keinen Platz mehr im Koffer habe.
Der Muschel-Grill hat leider schon zu als ich den Berg wieder hochsteige (Miyajima ist berühmt für die Inlandssee-Austern) und der Momiji-Manju-Laden an der Ecke hat immer noch eine lange Schlange.
Im Gästehaus empfängt mich der Sohn des Besitzers, Junya, in Indigo-Kleidung. Er führt mich herum und zeigt mir die Küche, die Bücher/Info-Stände, das Bad, die Ecke, in der man japanische Dinge ausprobieren kann (Origami, Kalligraphie, Kendama, das jap. Hacky-Sack, Musikinstrumente...).
Toll ist, dass es sehr viel gratis gibt: Frühstück, Softdrinks, Senbei, Heißgetränke. Ich mag das Gästehaus jetzt schon, auch wenn ich die Katze noch nicht gesehen habe. Junya zeigt mir auf dem PC ein Bild der anderen tierischen Gäste, einer Tanuki-Familie (jap. Waschbär).
Vor ihnen warnt auch das Schild am Eingang „Bitte Türe geschlossen halten – sonst fressen die Tanuki ihre Schuhe!“ - was ich für einen Witz gehalten habe, aber das ist ernst gemeint, sie nagen wirklich daran herum.
Die ganze Konversation über die Tanuki war auf Japanisch und als wir zum Bereich mit den Tischen kommen, werde ich von einer der beiden Damen, die dort sitzen gelobt, sie habe gedacht, Junya würde mit einer Japanerin reden, weil ich die ganze Zeit 相槌 (aizuchi, backchanneling) gemacht habe. Öh, okay, aber das liegt daran, dass ich das in Fukuoka aufgeschnappt habe, das Nicken/Zustimmend-Brummen und „Sou desu ne.“ ist ansteckend, wie auch Tamara, das Work-and-Travel-Mädel demonstriert, sie macht das die ganze Zeit.
Gott, es ist mir etwas peinlich, in meinen verschwitzten Jogging-Klamotten das überschwängliche Lob der beiden Frauen zu empfangen, die mich nach meiner Japanisch-Lerngeschichte fragen und die ich jetzt als die beiden erkenne, die die Kunstausstellung im Vorraum beaufsichtigt haben. Um das Thema zu wechseln, frage ich nach der Ausstellung und erfahre, dass die Sachen dort von den beiden handgemacht werden, sie haben auch das Hinamatsuri-Podest aufgebaut. Ich kaufe einen Chirimen-Karpfen für Tobis Patenkind und bekomme einen Hunde-Handyanhänger dazu geschenkt, meine wiederholten Versuche dafür zu bezahlen, scheitern.
Dann merke ich, dass die beiden Damen etwas unruhig werden, ich halte sie wohl davon ab, zur Fähre zu gehen und bedanke mich mehrfach, als die beiden ihre Schuhe anziehen.
Junya holt währenddessen extra für mich die Katze Miku aus dem Büro, nach der ich gefragt hatte, als er von den Tieren im Gästehaus erzählte (Tanuki und Katze sind immer da, Rehe und Füchse manchmal). Sie lässt sich streicheln, geht eine Runde und verschwindet wieder im Personalbereich.
Dann beziehe ich mein Bett in einem Tatami-Raum, der von Paravents in drei Teile geteilt wird, später sehe ich, dass links eine Engländerin und rechts eine Indonesierin schläft, die aber sehr wortkarg bleibt.
Ich habe endlich Zeit zum Duschen. Ich wasche meine Sportkleidung und meine Bluse in der Dusche mit aus und hänge sie draußen im Waschbereich auf Bügel auf.
Draußen wird es langsam dunkel und Junya ruft mich zur Gartentür. Dort sind wirklich drei Tanuki, die das Katzenfutter auf den Stufen fressen. Die Viecher sind fluffiger und niedlicher als erwartet und der Vater der Familie ist ein Albino... Ich rufe ein französisches und deutsches Pärchen dazu, die gerade zum Eingang hereinkommen und wir machen eifrig Fotos.
Dann spreche ich mit den deutschen Praktikanten (Theo und Tamara). Die beiden haben gerade Abi gemacht und machen Work and Travel, waren vorher in Hostels oder einem Kindergarten (langweilig, laut ihnen). Sie wollen evtl. in Bonn Asienwissenschaften studieren, schade, dass mein Studium so lange zurückliegt, wirkliche Tipps kann ich ihnen nicht mehr geben.
Jetzt ist es draußen komplett dunkel, Junya empfiehlt als Ziel für einen Spaziergang drei Plätze, wo es angestrahlte Kirschbäume gibt. Einer davon ist direkt den Weg am Haus hoch. Wirklich schön, in den Bäumen hängen rote Laternen, die die weißen Blüten Pink einfärben. Ich wundere mich nur über den Müll rund um die Mülleimer und denke, dass das daran liegt, dass diese zu voll sind. Ein junges jap. Pärchen, das auch im Mikuniya übernachtet, kommt die Treppe hoch und beginnt sofort, den Müll wegzuräumen. Ich helfe ihnen und mache für sie die Fotografin, als sie unter den Kirschbäumen posieren.
Auf dem Weg die Treppe runter sehe ich links im Berghang einen beleuchteten Tunnel hinter einer Baustelle. Ja, Tatsache, das ist ein normaler Fußgängerweg, der dazu noch an alten Lehm-Holz-Häusern vorbei zu einer beleuchteten Brücke führt. Laut Google Maps gehört sie zum Momijidani-Park, daher will ich zum Park hoch. An einer Gabelung steht ein amerikanisches Pärchen, die fasziniert zwei Rehen dabei zusehen, wie sie durch den Müll graben. Um sie herum liegt alles voller Tüten, die sie aus den Müll-Holzboxen gezogen haben – sie sind wohl lernfähig und Türen mit Griffen halten sie nicht mehr ab. Ah, der Schuldige wurde gefunden!
Das Pärchen sagt mir, dass der Momijidani-Park nicht erleuchtet ist und sich daher nicht lohnt, ich bedanke mich für den Ratschlag damit, dass ich für sie den Zeitplan der Fähre google und wende mich Richtung Stadt. Ich werfe einen Blick in die gepflegten Gärten der Nobelhotels und Ryokans und nehme jede Treppe, die sich mir gerade anbietet (die Stadt erinnert mich an Monschau, windende enge Gassen, überall Verbindungstreppen und in Hänge von Hügeln gebaut). So komme ich zufällig zu einem sehr hübschen Aussichtsort, einem Steinmonument auf einem Plateau mit weiteren angestrahlten Kirschbäumen. Ich setze mich auf eine Bank und genieße die Aussicht auf Setonaikai, die Pagode und die Stadt – nur gestört von einem die ganze Zeit laut hustenden Kerl, der mit Plastiktüten und Flaschen beim Steinmonument sitzt. Keine Ahnung, ob er betrunken ist, aber er vertreibt die Rehe mit Steinwürfen.
Nach einem vergeblichen Versuch, die Pagode von hier aus zu fotografieren, steige ich die nächste Treppe herunter und laufe durch die Hintergassen von Miyajima. Hier gibt es keine Touristenläden, alles ist still – aber manchmal rieche ich, dass in den Häusern gerade gekocht wird. Etwas verwirrt bin ich von einem sehr hohen Geräusch, das immer mal wieder vom Straßenrand und von über mir kommt. Sind das Fledermäuse (ich sehe keine) oder Insekten?
Ich komme durch Zufall am „Größten Reislöffel der Welt“ vorbei – hier in der Souvenirstraße kommen mir sowohl der Besoffene als auch das Pärchen wieder entgegen - und klettere zu der in kompletter Dunkelheit liegenden Großen Halle des Buddhistischen Tempels hoch und verschrecke damit ein paar Rehe, die in die steilen Hänge hüpfen.
Die Pagode neben dem Tempel ist auch von hier aus gesehen nur schwach beleuchtet, wieder keine Fotos. Ich wandere weiter zu einer Landzunge, angelockt von einer Reihe Laternen. Überall sind eher spazierende westliche Touristen unterwegs, auch in den noch offenen Restaurants, wie z.B. einem Ramen-Restaurant - keine Ahnung, ob die japanischen Touristen lieber gemütlich nach dem Abendessen ihr Bad genießen.
Zurück im Mikuniya entscheide ich mich für Tiefkühl-Udon und spreche während des Essens (gar nicht mal so schlecht!) mit der Engländerin aus meinem Zimmer, die das Wandern über den Nakasendo (ehemalige Reichsstraße) empfiehlt, vor allem die Gegend um Kisoji (木曽路). Kommt zusammen mit Nord-Japan auf meine Liste für ein drittes Mal in Japan (irgendwann...).
Nach dem Essen versuche ich mich an den Kalligraphiestrichen, die Kuriyama-Sensei uns gezeigt hat und an Kendama. Währenddessen kochen die Praktikanten in der Küche Mabo-Tofu und (fertige) Creme Brulee – als Geschenk für das Personal, aber sie machen meiner Meinung nach ziemlich viel Unordnung und vor allem merke ich am nächsten Morgen, dass sie den Müll nicht getrennt haben, gna.
Junya isst mit den beiden. Irgendwann nach dem Essen setze ich mich zu ihrer Unterhaltung dazu und steuere Haribo bei. Bei Tee, Haribo und Senbei wird es ein sehr netter (und sehr langer) Abend, da wir von Namensgebung zu Schulabschlüssen, zu Reisen, zu Sprachenlernen als Gesprächsthemen kommen. Junya will, da sein Traum ist, zertifizierter Touristenführer zu werden, den Toeic-Test in den Bereichen Sprechen und Schreiben bestehen und zwar schon in drei Monaten und fragt nach Lernressourcen. Ich lasse mir vom ihm ein Bild beschreiben und sein Vorbereitungsbuch zeigen. Rate ihm zu Lang-8 (dort hat er leider nicht viele Korrekturen bekommen) und Skype-Sprachpartnerschaften und dass er jemanden braucht, der seine Übungstexte mit ihm durchgeht (ich bin raus wegen Referendariat). Tamara fragt ihre Freundin in Deutschland, die tatsächlich einverstanden ist, Junyas Texte zu korrigieren.
Um 1:30 überlege ich, dass ich langsam ins Bett sollte und verabschiede mich, was Junya auch zum Anlass nimmt, „Gute Nacht“ zu wünschen. Erst jetzt fällt mir ein, dass er ja wahrscheinlich früh aufstehen muss, habe ein wenig ein schlechtes Gewissen.
Die Engländerin und die Singaporerin schlafen schon, ich putze noch meine Zähne und schlafe dann sofort ein.
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« Antworten #42 am: 11. April 2018, 12:40:52 »

Montag, 2.4. Oosaka mit Götz
Als ich um 8:00 aufwache, ist die Engländerin schon weg. Ich gehe in die Küche, um mir Instant-Misosuppe und Tee zu machen, statt dem Shokupan-Toast mit Marmelade nehme ich mir lieber Vollkornflocken (Quaker Oats) mit Milch.
Meine draußen hängende Kleidung ist noch nicht trocken, daher entschließe ich mich erstmal zu einem Morgenspaziergang. Durch den kleinen Park mit den Kirschbäumen die Straße hoch gehe ich zum Momijidani-Park. Die äußeren Pfade sind nicht so gut gepflegt und der Park selbst ist im Frühling auch nicht wirklich beeindruckend.
Was beeindruckend ist, ist die Landschaftsgestaltung. Alles hier, die Platzierung der Felsen, Bäume und der Lauf des Wassers sind von Menschenhand geschaffen. Im Jahr 1945 begrub ein Erdrutsch nach einem Taifun das Tal unter sich, danach veranlasste die Regierung umfangreiche Befestigungsarbeiten und Hochwasserschutz, die aber möglichst unsichtbar sein sollten, um das Tal als Naturschauplatz zu erhalten.
An der roten Brücke, die ich bei meinem Nachtspaziergang schon gesehen hatte, warte ich geduldig darauf, dass niemand darauf steht – was nicht klappt, weil ein seltsamer Westler mit einer überkämmten Pläät in einem Givenchy-Trainingsanzug die ganze Zeit Selfies auf der Brücke macht.
Noch ist in der Touristenzone noch nicht viel los, ich mache Fotos von der Pagode (höfliches Standort-Wechseln mit einem japanischen Touristen) und der Senjokaku-Holzhalle, spare mir aber den Eintritt.
Bei Iwamura kaufe ich mir ein frisch gemachtes, noch warmes Momiji-Manju (mit Anko gefülltes Teigbällchen in Ahornblatt-Form) und trinke meinen mitgebrachten Tee dazu.
Dann kehre ich ins Gästehaus zurück, aber meine Wäsche ist immer noch nicht trocken, obwohl ich sie in die Sonne gehangen habe. Stattdessen blättere ich durch die Bücher im Aufenthaltsraum, wie z.B. ein Buch über Katzendarstellungen in der japanischen Kunst. Die beiden deutschen Praktikanten schlafen noch, ein sehr fertig aussehender Junya trägt eine Mischung seiner traditionellen Indigo-Arbeitskleidung und eines Schlafanzugs, als die ersten Gäste (um 9:30 zu früh, der Arme!) auschecken wollen.
Um 10:00 kommen auch die beiden Ausstellungsdamen wieder mit der Fähre aus Hiroshima, das ist für mich ein etwas peinliches Treffen, weil ich nicht weiß, wie ich mich für das Geschenk bedanken soll und eigentlich vorhatte, das Geld für den Preis des Hundes zu hinterlassen, aber das nicht geht, wenn sie dabei sind...
Als ich um 10:30 genug gewartet habe und das Trocknen der Kleidung aufgebe (sie ist zumindest nur noch feucht, nicht mehr nass), gibt mir auch Junya noch Süßigkeiten (wie Maoam) auf den Weg. Noo! Noch mehr Geschenke! Das war wahrscheinlich sein Dankeschön dafür, dass ich ihn auf Lang-8 zur Freundesliste hinzugefügt habe.
Ich bedanke mich daher auch die ganze Zeit, als ich zum Ausgang gehe – ich würde definitiv wieder hier bleiben, vor allem, weil ich das Folklore Materials Museum nicht sehen konnte, weil es montags zu ist.
Auf dem Weg zur Fähre hole ich mir noch die berühmten gegrillten Austern (heiß! fischig!) und verlasse Miyajima. Der Bahnhof am Hafen ist winzig und bis der Zug nach Hiroshima kommt, sind es nur noch vier Minuten, daher stehe ich wie auf heißen Kohlen, als der Japaner vor mir noch Fragen zu seiner Karte hat. Ich schaffe es gerade noch, nach der Sitzreservierung für den Shinkansen mich und meinen Koffer über den Fußgängerübergangs zu bringen, zwei alte Touristinnen auf dem anderen Gleis sind trotz spontanem Spurt zu spät, die Türen sind zu, der Zug fährt ab. Und auch in Hiroshima muss ich etwas laufen, um meinen Shinkansen zu erreichen. Puh, geschafft.
Diesmal eine pünktliche Ankunft in Shin-Osaka und ich habe sogar kurz die Burg Himeji vom Zugfenster aus gesehen. Meine Nimoca-Karte ist für die U-Bahn in Oosaka gültig, daher fahre ich genau nach Wegbeschreibung des Bike and Bed CharinCo Hostels nach Taniyonchoume und checke ein.
Das Hotel erkennt man an den rauchenden Westlern auf der Patio-Bank draußen, drinnen gibt es an der Wand Fahrräder, eine Retro-Console mit Mario Kart und wohl auch Dauergäste. Weil ich diesmal nach 15h in der Zielstadt angekommen bin, kann ich meine Koffer direkt mit dem Aufzug in den Schlafsaal bringen. Im Gegensatz zum J-Hoppers hat dieser Raum 22 Betten – und leider nur ein Waschbecken. Meine Koje ist unten, aber direkt unter dem sehr lauten Lüftungsschacht in der Mitte des Raumes – ich frage an der Rezeption, ob ich die Kojennummer ändern kann. So richtig weit weg komme ich nicht von der Geräuschquelle, aber egal, nur für eine Nacht.
Ich leihe mir nach Auspacken des Rucksacks ein Fahrrad (ist kostenlos, nur 1000 Yen Pfand) und
weil der junge Mann an der Rezeption auf der Karte als erste Station Shinsaibashi empfohlen hat, radele ich dorthin.
Fahrradfahren ist super (ich fühle mich „like a boss“ oder „like a local“), einzige Unsicherheit sind die Verkehrsregeln und die ungeschriebenen Regeln. Zwar hat der Mensch vom Hostel mir gesagt, dass ich keinen Helm und keine Lampe am Fahrrad brauche (ähh, ja, gelogen), aber es dauert etwas, bis ich merke, wohin entgegenkommende Fahrräder in der Regel ausweichen. Und ja, hier fährt fast jeder auf dem Bürgersteig – oder bei Rot über die Ampel...
Die Gegend wird langsam von einem normalen Wohnviertel zu einer hippen Geschäftsgegend mit leichtem Rotlicht-Anteil – ich nähere mich dem Ziel. Fahre durch Amerikamura, das Viertel, das seit den 1970ern importierte Kleidung und Markenschuhe aus den USA verkauft (auch Secondhand) und die aus den Geschäften schallende Musik hier ist hip-hop-lastig.
Dann lasse ich mich von Google Maps zu dem touristischen Hot-Spot Dotonburi leiten, wo zu beiden Seiten eines Flusses ein nach 18:00 Lichtermeer aus Neonreklamen wartet.
Da das Treffen mit Götz spät zu werden verspricht, kaufe ich in einem Don Quijote etwas zu essen und zu trinken. Mit meinen Brotresten aus Fukuoka und dem Stringcheese aus dem Donki sitze ich direkt vor dem Glico-Schild. Danach laufe ich herum, vorbei an dem Trubel. Mir fällt nur das „動かへんて思てた” am Riesenrad auf – Oosaka-ben für „Du hast wohl geglaubt, dass ich mich nie wieder bewege“ - denn das Riesenrad wird nach 15 Jahren Pause und Renovierung ab April 2018 wieder fahren.
Ich habe etwas Probleme, mein angeschlossenes Fahrrad wiederzufinden – beim nächsten Mal merke ich mir den Ort besser, nehme ich mir vor und radele zurück zum Hostel, um mich umzuziehen, weil es nach Sonnenuntergang deutlich kühler geworden ist. Da Inge versucht hat, mich anzurufen und auch auf die Mailbox gesprochen hat, schreibe ich eine kurze Antwort an sie und warte auf der Bank vor dem Hostel auf Götz Bescheid, dass er aus der Firma raus ist. Der kommt erst um 20:30 fertig, weil auf das offizielle Ende der Arbeitszeit die Pausenzeiten nochmal drauf geschlagen werden (Götz: „Was ein Kindergarten! Als ob in den zwei Stunden noch jemand produktiv gearbeitet hätte...“).
Wir verabreden uns in Umeda. Als Landmarke, die man gut mit Google Maps finden kann, schlage ich die Sonezaki Polizeistation vor (schon praktisch, die Standort-Bestimmung). Götz ist wegen seiner Größe nicht zu übersehen. Er erzählt, was er an den drei Tagen, die er schon in Japan ist, gemacht hat und dass er nur eine Anzughose dabei hat, ihm aber gesagt wurde, eine Jeans wäre ein No-Go (also keine Physiker, ne Tobi?).
Wir haben beide genug Hunger für All-you-can-eat Yakiniku. Der Laden, wo mich das Internet hinführt, ist das An-An, aber in derselben Shoutengai hätte man an noch viel mehr Läden zur Auswahl gehabt. Die Bedienung, die uns zum Platz führt, warnt uns vor, dass wir nur noch 1,5 Stunden statt der normalen zwei Stunden Zeit haben, uns egal, wir nehmen trotzdem das mittelteure Set für 3300-Yen-Kurs (mit Softdrinkoption). Wir kriegen eine englische Speisekarte, aber die englische Erklärung für den Starter ist missverständlich (das Restaurant beginnt wohl immer mit einer Fleischplatte aus der teureren Auswahl). Danach kann man aus dem Farben-Set, für das man bezahlt hat, soviel bestellen, wie man will
Am besten schmeckt mir „spicy young galbi“ (mariniertes Rindfleisch) und die Gemüsebeilagen wie  Knoblauch mit Butter oder Kohl mit Sesam-Dressing (obwohl ich nicht weiß, ob das eigentlich zum Anbraten ist...). Irgendwann bin ich pappsatt, aber da ich weiß, dass man für nicht gegessene Platten bezahlen muss, dränge ich Götz zum Aufessen – er wusste das nicht, mein Fehler, hätte ich übersetzen müssen, dieser Hinweis fehlt auf der englischen Version der Karte.
Während des Essens erzählt Götz von der Arbeit. Er wird 10 Monate in Oosaka bleiben, mit kleinem Zwischenausflug nach Shanghai und Anke wird auch dorthin kommen. Hätte schon fast Lust, in den Herbstferien nochmal hin zu fliegen...
Wir müssen uns wirklich zwingen, die letzten Fleischstücke auf den Platten noch zu schaffen, ich verdächtige die Angestellten,  dass sie uns alles bereits aufgeschnittenes Restfleisch gegeben haben, als wir die beiden letzten Gäste im Laden sind, aber um vier Minuten vor Ladenschluss stehen wir schwerfällig auf.
Leider muss Götz wegen frühem Arbeitsanfang nach Hause und ich will diesmal früh raus und nach Tokyo, daher trennen wir uns mit Umarmung, nachdem Götz an einem Konbini-ATM Geld geholt hat (danke, dass du die Getränke bezahlt hast!). Etwas beneide ich ihn, er hat noch so lange Zeit in Japan vor sich...
Die Bar des Hostels ist voll, das Retro-Game lockt laute Rucksackreisende an, aber ich bin im Foodkoma und will nur noch ins Bett, auch wenn ich zuerst mein Reisewaschzeug sauber machen muss, weil meine Zahnpasta ausgelaufen ist. Fluche, habe aber noch genug Aufmerksamkeit für mehrere Verbesserungsvorschläge, die ich dem Hostel machen würde (reißt den dicken Teppich vor dem Waschbereich raus, sorgt dafür, dass Platz für die Schuhe von allen Schlafsaalbewohnerinnen gibt, mehr Haken überall) und wundere mich über die komische Denkweise meines Gehirns. Zumindest der laute Lüfter ist jetzt aus – was aber leider auch heißt, dass es wärmer im Raum wird, mitten in der Nacht reiße ich das Laken vom Plümo und schlafe nur noch unter der einen Lage Baumwollstoff – zu warm!
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« Antworten #43 am: 11. April 2018, 12:43:13 »

Mittwoch, 4.4. Kappabashi, Asakusa und Tokyo Edo Museum
Nach dem Frühstück (ich esse Chiharus Müsli plus Kumis Salat und Toast) leiht mir Kumi ihr gelbes Fahrrad, ich fotografiere, um auf Nummer Sicher zu gehen, den Schlosscode und radele Richtung Asakusa. Nach Osaka heißt es: Biking like a pro! Naja, bis ich in Kappabashi bemerke, dass ich aus Versehen Kumis Garagenschlüssel mitgenommen habe...
Kappabashi ist eine Einkaufsstraße, die an beiden beiden Seiten von Läden für Küchenbedarf gesäumt wird: täuschend echte Wachsmodelle von Gerichten, Drahtsiebe, Töpfe in allen Größen, Keramik, Kellneruniformen und Läden, die auf zwei Etagen nichts als Dinge für Backen und Süßigkeitenherstellung verkaufen – ich glaube, Elli hätte hier ihren Spaß. Ich kaufe Omiyage, leider gibt es keine Standing-Nigiri-Box mehr in dem Laden, der Hakoya-Boxen verkauft. Am meisten Zeit verbringe ich in den Keramikläden, weil ich (erfolglos) versuche, meinen Seiji Kannyu-Teller (crackled celadon glaze) durch eine Schüssel zu ergänzen.
Bei Keramik Dengama kaufe ich stattdessen eine Blumenvase und einen Sake-Cup auf der zweiten Etage (aka. hier sind die teuren, nicht touristischen Künstlerobjekte) – beide sind aber im Ausverkauf, hähä, den Rest kann ich mir nicht leisten...
Danach laufe ich die Kappabashi hoch und runter, als mein erster Versuch, tax free einzukaufen – bis ich bemerke, dass sich das für mich überhaupt nicht lohnt, ich kriege ja nur magere 8% zurück bezahlt. Mehr Rumgelaufe, weil ich zwar ein Foto gemacht habe, wo ich das Fahrrad gelassen habe, aber nicht auf der Karte gemerkt habe....
Ich trete auch schüchtern in einen Messer-Laden ein, mit dem Gedanken, evtl. für Tobis Vater ein Messer zu kaufen. Aber die Fragen, die sie hier vor dem Kauf stellen, kann ich alle nicht beantworten, daher flüchte ich, bevor mich ein Verkäufer bemerkt hat. Sorry, ich glaube, das mit dem Santoku-Geschenk wird nichts...
Asakusa ist ganz nahe, dort komme ich am Ausgang des altehrwürdigen Hanayashiki-Vergnügungsparks aus und setze mir diesmal sofort die Marke für den Fahrradabstellplatz. Das Hanayashiki hat einen heruntergekommen, aber auch nostalgischen Retro-Charme, genau wie die Shoutengai direkt daneben, beides existiert wohl schon seit der Taisho-Zeit. An Leerstand vorbei, beschallt vom Kreischen der Achterbahn, suche ich nach dem Tempelgebäude, an das ich mich von 2005 erinnern kann. Das gibt es auch, aber hier ist im Gegensatz zu damals so viel Gedrängel, dass ich keine wirkliche Lust habe, die Nakamise Dori-Ladengasse zwischen den beiden Toren zu durchlaufen, um, wie ich eigentlich vorhatte, Senbei zu kaufen. Ich umrunde den Sensouji einmal und suche mir dann über die verlassenen Hintergassen den Weg zum kostenlosen Edo Shitamachi Traditional Crafts Museum. Das ist ein kleines Gebäude in der Shoutengai von eben, auch etwas 70er-Jahre-Stil, unten am Empfang sitzt niemand, aber das Kunsthandwerk verschiedener Künstler in dem einen Raum ist den Besuch wert.
Im Spirit des „Japan von Annodazumal“ bleibend, schlage ich einen Bogen zurück, um bei einer Filiale von Kagetsudou, einem Laden, der seit 1945 Melonpan (Brötchen mit Zuckerkruste) und Kakigoori (Raspeleis) verkauft. Mein Kakigoori ist ein Eisberg mit süßer Dosenmilch und Shiratama (Klebreisbällchen) – schon bei der Hälfte habe ich Gehirnfrost.
Nach diesem ungewöhnlichen Mittagessen überlege ich, wohin ich als nächstes will. Da das Tokyo Edo Museum auch nahe genug für eine Fahrradfahrt ist, fahre ich am Ufer des Sumida runter (mit Stop für Fotos des Skytree und des „Golden Poop“ aka. der Asahi-Flamme). Hier sitzen immer noch Familien mit Kindern unter den inzwischen schon stark verblühten Kirschbäumen.
Auf der anderen Flusseite setze ich mich kurz in einem Park nahe dem Museum, um das Jumbo Melonpan zu essen und werde dabei von alten Männern auf Bänken gemustert.
Ich parke das Fahrrad an einer Laterne, nicht in den Verbotszonen rund um das Museum und gehe rein. Peinlicherweise muss mir ein Sicherheitsmann zeigen, wie man das Münzschließfach verwendet (ich werde aus den Bildern und Pfeilen nicht schlau, kann ich bitte Kanji haben?).
Leider gibt es auf der 6. Etage, wo die Ausstellung beginnt, keine englischen Volunteer Guides mehr, also folge ich einer japanischen Tour, alles alte Männer. Auch wenn das, was der Guide erzählt, interessant ist, sind sie mir zu langsam, so würde ich Tage für das gesamte Museum brauchen, daher löse ich mich und erkunde selber, es gibt auch genug englische Schilder (bin zu faul für Japanisch).
Ich mag vor allem die interaktiven Ausprobier-Stücke, wie z.B. eine Sänfte, ein Tragejoch, eine Feuerwachen-Lederflagge etc. und die Nachbauten von Häusern aus der jeweiligen Zeit, das Museum ist nämlich chronologisch organisiert.
Leider bleibt viel zuwenig Zeit für den Teil der Ausstellung nach dem 2. Weltkrieg, dort renne ich nur durch und das Museum schließt  pünktlich um 17:30 – Mist, hätte weniger Zeit in Asakusa verbringen sollen...
Nahe Ueno Station komme ich zufälligerweise durch ein weiteres Ziel meiner Bucketliste: Ameyoko Shoutengai – hier mit dem Fahrrad durchzukommen ist aber schwierig, viele Leute, von der wilden Mischung von Gamecentern, Tsukemono-, Nori- und Secondhandläden angezogen. Ich bin hier, weil ich bei Yodobashi das Gehäuse für meine Festplatte und das Ladekabel holen will. Letzteres brauche ich nicht, weil ich merke, dass mein Handyladekabel doch passt und ersteres gibt es nicht, nur einen Kabeladapter für 2.5 und 3.5-Inch-Festplatten, den ich mir nach einiger Überlegung hole.
Kumi fragt, wo ich bin, wir haben uns für 18:30 zum Essen verabredet, für Okonomiyaki, diesmal Kantou-Style (also so, wie ich das zuhause machen würde). Ich radele zum Kaminarimon und wir haben Glück, in dem Restaurant, das Kumi empfiehlt, ist gerade ein Tisch frei geworden. Ich wähle eine Mentaiko-Version, Kumi macht ihr Okonomiyaki selber auf der heißen Platte vor sich. Ich bestelle auch Nukazuke (eingelegtes Gemüse) – ohne zu wissen, dass Kumi nachher wieder bezahlen wird – wah? Zurück gehen wir zu Fuß, weil Kumi ja direkt von der Arbeit gekommen ist und kein Rad hat, mit Zwischenstop in einem Supermarkt, auf der Jagd nach dem mysteriösen Kawaraketsumei-cha – gibt es nicht, daher kaufe ich nur Wasser.
Asa ist noch wach, ich glaube, er arbeitet nachts. Ich gehe wieder unter die Dusche, probiere danach aus, ob auch die Festplatte kaputt ist (nein, nur die Ultrabay hat ein abgebrochenes Plastikteil innen, puh) und schlafe nach einer Frage an Kumi, wie das mit Umtauschen von Waren in Japan ist, ein – in dieser Nacht hätte die Decke ruhig dicker sein können.
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Squirrels on my lawn
are never there
when I hold the hose.
(Lorna Dee Cervantes "American Haiku")
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